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Rundbrief
  Rundbrief Nummer 135  
San Francisco, den 11.09.2020
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Rundbrief


Abbildung [1]: Viele ziehen weg aus San Francisco, an jeder Ecke steht ein Möbelwagen.

Michael Seit Monaten sinken die Mietpreise in San Francisco. Grund dafür ist die Massenflucht junger Leute aus der Stadt, an jeder Ecke steht mittlerweile ein Möbelwagen und ein Techie lädt verschämt sein $3000-Fahrrad ein. Ab geht's, wieder heim zu Mami und Papi nach Kentucky! Viele Wohnungen stehen leer, auf Craigslist wird teurer Yuppie-Krempel billig verscherbelt.

Da die Tech-Firmen keinen Wert mehr darauf legen, dass Leute ins Büro kommen, und San Franciscos Unterhaltungswert wegen geschlossener Restaurants und Tanzbetriebe seit geschlagenen fünf Monaten auf absolut Null liegt, will kein Hipster mehr hier wohnen. Dazu noch Obdachlosen-Zeltlager quer über die Stadt verstreut, Massenpleiten kleiner Geschäfte, irre Restriktionen wie seit fünf Monaten geschlossene Frisörsalons, ein gewaltiger Schub an Einbrüchen und Kleinkriminalität mangels Polizeiinteresse -- wer will für so etwas noch absurd hohe Mieten zahlen?

Abbildung [2]: Mangels Unterhaltungswert sieht keiner mehr ein, hohe Mieten zu zahlen.

Vermieter raufen sich die Haare, allein bei uns im Haus sind schon drei Parteien ausgezogen, alles junge Leute. Neue Mieter sind schwer zu finden, selbst bei reduzierten Preisen. Die Narren, die in den letzten Jahren eine Immobilie als Investitionsobjekt zu geradezu idiotischen Preisen gekauft haben, stehen jetzt vor einem Finanzproblem, denn wer soll die Hypothek abbezahlen?

Abbildung [3]: Hauptsächlich junge Leute ziehen wieder heim zu Mami und Papi.

Wird es bald zu Panikverkäufen kommen? Ein Durchschnittshaus in unserem Viertel kostet immer noch 2,1 Millionen, da ist also noch Luft nach unten, bis ein einigermaßen vernünftiges Niveau erreicht ist. Man merkt, wie die Wohnungsmakler schon nervös werden, und betonen, dass die Preiskorrektur etwa 1% betragen wird. Na, Kinder, versuchen wir's mal mit 50%, sage ich. Wie immer wird's der Markt richten, jede noch so absurde Blase platzt irgendwann. Wenigstens darauf ist Verlass.

Waldbrände in Kalifornien

Abbildung [4]: Waldbrände im Norden haben soviel Rauch in die Atmosphäre geblasen, dass San Francisco braun-orange aussieht, wie im Film Blade Runner.

Angelika Mitte August weckten uns Donnergrummel und gigantische Blitze in der Nacht. Gewitter sind in San Francisco extrem selten. Ich kann an einer Hand abzählen, wieviele es gab, seitdem wir hier wohnen. Die Gewitter sind in der Regel nicht von Regen begleitet und immer besorgniserregend in einem Bundestaat, in dem die Vegetation nach langer Zeit ohne Niederschlag extrem trocken ist. Feuer sind da praktisch vorprogrammiert. Leider bewahrheiteten sich meine Befürchtungen. Das Gewitter brachte viele Blitzeinschläge mit sich und nur wenige Tage später brannte es lichterloh überall in Kalifornien.

Abbildung [5]: Zwölf Uhr Mittag, am 9.9.2020: In San Francisco geht wegen einer Aschewolke in der Atmosphäre den ganzen Tag die Sonne nicht auf.

Diesen Mittwoch (9.9.) wachten wir auf und dachten, dass wir auf einem anderen Planeten leben. Alles war in rot-oranges Licht gehüllt und die Sonne nicht zu entdecken. Es war so dunkel, dass wir den ganzen Tag über Licht anlassen mussten. Wir verloren jegliches Gefühl für die Tageszeit und können es wirklich nicht anders als apokalyptisch beschreiben. Die Meteorologen versuchten zwar die Bevölkerung zu beruhigen, indem sie erklärten, dass das Phänomen zustande kommt, weil die Rauchpartikel und Asche höher in der Atmosphäre waren und dadurch die Sonnenstrahlen so gebrochen wurden, dass die orange-rote Färbung entsteht, ähnlich wie beim roten Sonnenuntergang. Allerdings habe ich schon viele Sonnenuntergänge dieser Art gesehen und keiner war nur annähernd vergleichbar mit dem, was am Mittwoch hier los war. Die Luft roch aber tatsächlich nicht nach Rauch, denn die Partikel schafften es nicht so weit auf den Boden runter. Allerdings regnete es Asche und ich hatte Aschepartikel auf meinem T-Shirt, als ich auf dem Balkon ein Foto machte. Außerdem brennt es nicht mehr nur in Kalifornien, sondern an der ganzen Westküste. Die Bundestaaten Oregon und Washington sind mittlerweile auch stark betroffen.

Abbildung [6]: Der Rauch der Waldbrände im Umland zieht in die Stadt.

560 Brände wurden über ganz Kalifornien verteilt gezählt. In San Francisco selbst brennt es Gott sei Dank nicht, aber um uns herum gab es gleich mehrere sich schnell ausbreitende Brände. Es brannte und brennt immer noch in Point Reyes, Santa Cruz und im Weingebiet. Obwohl Waldbrände mit gewaltigen Außmaßen mittlerweile jedes Jahr Kalifornien in die Knie zwingen, sind sie unter Covid-Bedingungen noch eine Spur brisanter, denn Massenevakuierungen und Feuerlöschen mit Abstandsregeln stellen ganz neue Herausforderungen dar. Auch kamen die Feuer jahreszeitlich viel zu früh, denn die eigentliche Feuersaison beginnt in der Regel erst im Oktober. Obwohl wir es eigentlich schon hätten wissen müssen, denn nichts läuft normal bis jetzt im Jahr 2020.

Abbildung [7]: Der Rauch der Waldbrände macht zwar schöne Sonnenuntergänge, ist aber extrem lästig.

Viele der Brände bedeuten extrem schlechte Luft in San Francisco, und das über Tage und Wochen. Meist wachen wir in einer richtigen Suppe auf. Es riecht wie ein abgestandenes erkaltetes Lagerfeuer und es brennt in den Schleimhäuten. Gegen 4 Uhr nachmittags verbessert sich die Luftqualität durch die nachmittags aufkommenden Winde meist in der Stadt. Dann reißen wir schnell die Fenster und Türen auf, die wir bis dahin fest verschlossen hatten, um Hitze und Gestank nicht reinzulassen. Um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, machen wir jetzt stündlich den Balkon-Riechtest und schauen natürlich auch auf die diversen Seiten im Internet, die die Qualität der Luft und Anzahl der gefährlichen Partikel in derselben veröffentlichen für die unterschiedlichen Städte und Landkreise.

Abbildung [8]: Wegen der Waldbrände ist die Luft in Bay Area geradezu gesundheitsschädlich.

Die Einstufungen gehen wie folgt: gut, moderat, ungesund für sensible Bevölkerungsgruppen (also z.B. Personen mit Vorerkrankungen wie Asthma), ungesund, sehr ungesund, gefährlich. Spazierengehen können wir dann, wenn die Luft nicht mehr wie hunderte alter voller Aschenbecher riecht oder auf moderat absinkt. Dann ziehen wir los mit unseren Corona-Stoffmasken, die aber blöderweise völlig nutzlos sind gegen die Rauchpartikel in der Luft, denn dafür bräuchten wir N95-Masken, die man aber wegen Corona dem medizinischen Personal nicht wegkaufen soll. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Ich fand es übrigens erstaunlich, dass in der Tagesschau, die wir hier jeden Tag anschauen, erst relativ spät über die kalifornischen Feuer berichtet wurde. Scheinbar ist es nur noch eine kleine Meldung wert in dem Chaos des Jahres 2020, wenn ein riesiger Bundesstaat in Flammen aufgeht.

Abbildung [9]: Am Ocean Beach bläst der Wind den Rauch meist weg und man kann spazierengehen.

Abbildung [10]: Der "Quarter" ist ein viertel Dollar und eine wichtige Münze im Zahlungsverkehr.

Michael Etwa einmal die Woche ist bei uns Waschtag, da schleppen wir unsere Schmutzwäsche runter in die Waschküche unseres Mietshauses und stellen eine der beiden Maschinen an. Auf jeder steht ein Aufsatz, der Vierteldollar-Münzen, sogenannte "Quarters" schluckt, und beim Preis von $2.50 pro Waschgang erfordert dies schlappe zehn Münzen. Dann kommt noch eine zweite oder dritte Trommel hinzu, dann die ganze Chose noch durch den Trockner, der ebensfalls $2.00 pro Ladung schluckt, und ruck-zuck sind 40 Quarters verbraucht.

Abbildung [11]: Die Waschmaschine in der Waschküche unseres Hauses nimmt nur Quarters.

So viel Münzgeld trägt natürlich niemand im Portemonnaie herum, und so gehen wir alle paar Monate zur Bank, bringen einen großen Stoffbeutel mit und tragen ein paar Kilo Quarter heim. Früher habe ich jedesmal gefragt, ob die Kassiererin mir nicht einen Banksack mit einem Dollarzeichen drauf geben könne, wie man sie bei Bankräubern in Karrikaturen sieht, aber der Witz wurde irgendwann alt. Letztens machte mich die Kassiererin allerdings darauf aufmerksam, dass sie mir nicht wie gewünscht $200 in Quarters geben könne, da zur Zeit alle Banken pro Kunde nur noch eine einzige 10-Dollar-Bandarole (also 40 Quarters) herausgeben dürften. Waas?

Der Grund stand neulich in der Zeitung: Durch die Corona-Krise mussten viele Geschäfte schließen, und angeblich brachte dies und die mangelnde Kauflust der Kunden den Rückfluss von Quarters an die Banken ins Stocken. Ich hätte zwar eigentlich gedacht, dass die meisten Leute hier mit Karte zahlen, kaum jemand mit Bargeld, und schon gar nicht mit Münzgeld, aber die traurige Tatsache ist, dass es keine Quarters mehr gibt.

Abbildung [12]: In unserem Quarter-Bunker lagert Waschgeld für mehrere Monate.

Manche Mieter haben jetzt schon ihren Vermietern angeboten, die bereits in den Maschinen steckenden Quarters zurückzukaufen. Bei uns im Haus ist das aber nicht so einfach, denn die Maschinen werden von einem kommerziellen Betreiber gewartet und geleert. Von öffentlichen Waschsalons wird berichtet, dass sie Kunden Quarters gegen Scheine umwechseln, aber dann darauf bestehen, dass die Münzen auch vorort in die Maschinen gesteckt und nicht heimgetragen werden. Wer jetzt denkt, "Mein Gott, dann sollen sie halt Maschinen mit Kartenlesern hinstellen!", der kennt die Trägheit manch amerikanischer Traditionen nicht.

Letzendlich wird's wahrscheinlich wie schon beim Klopapier darauf hinauslaufen, dass windige Geschäftemacher Quarters horten, um diese dann gegen Aufpreis zu verkaufen. Zum Glück war ich noch kurz vor der Quarterkrise bei der Bank und in unserem Quarter-Bunker liegen noch Vorräte für mehrere Monate. Bis dahin ist das Versorgungsproblem hoffentlich gelöst. Sonst heißt es knausern, und nur alle zwei Wochen zu waschen, damit die Münzen länger vorhalten!

Coronaeinschränkungen

Abbildung [13]: Letzte Woche begann ein Frisör auf der 24sten Straße, Haare auf dem Gehsteig zu schneiden.

Angelika Die schon erwähnte Tagesschau führt uns auch immer vor Augen, wie unterschiedlich die Coronazahlen und -einschränkungen von Land zu Land sind. Während es in Deutschland augenscheinlich nicht Wichtigeres als den Sommerurlaub gab, wäre ich schon glücklich, wenn mein Frisör wieder aufmachen dürfte. In San Francisco fühlt es sich so an, als ob wir in einer Zeitkapsel stecken geblieben wären. San Franciscos Bürgermeisterin London Breed legte das Stadtleben Mitte März auf Eis und seitdem geht wenig vorwärts. Ich kriege zwar stets E-Mails von meinem Frisörsalon, dass sie jetzt bald wieder aufmachen dürfen, aber bis jetzt wurde das immer wieder zurückgefahren, weil die Coronafälle doch wieder stiegen. Mittlerweile glaube ich, dass wir bis zum Impfstoff ausharren müssen, damit die Stadt wieder zum Leben erweckt wird.

Abbildung [14]: Geisterstadt San Francisco: Auf der Market-Street ist praktisch jedes Geschäft mit Brettern vernagelt.

Seit unserem letzten Rundbrief (Rundbrief 05/2020) hat sich in San Francisco eigentlich nichts verändert, außer dass einige Geschäfte, die ihren Service draußen anbieten können, aufmachen durften. Restaurants können Kunden draußen an Tischen bedienen, der San Francisco Zoo und der botanische Garten sind wieder auf, und einige wenige Fitnesscenter haben ihre Geräte auf die Bürgersteige verfrachtet. Leider kämpfen die Etablissements, die ihre Außenbereiche geöffnet haben, nun auch noch mit der extrem schlechten Luft durch die Waldbrände und verlieren wieder lebensnotwenige Einnahmen, weil die Kunden wegbleiben.

Abbildung [15]: Ein wegen Corona abgesperrter Spielplatz.

Auch Sommercamps mit bis zu zwölf Kindern durften stattfinden und Kinderbetreuungseinrichtungen in kleinen Gruppen für nicht schulpflichtige Kinder (auch in Innenräumen) haben in San Francisco mittlerweile wieder auf. Schulen sind in San Francisco aber weiterhin geschlossen! Kunden dürfen Geschäfte wie Klamottenläden auch wieder betreten, solange die Hygieneauflagen eingehalten werden, wie Maske tragen und Abstand halten. Die traurige Wahrheit ist allerdings, dass in San Francisco viele kleine und mittlere Geschäfte und Restaurants mittlerweile pleite sind. Nach einer Umfrage der Handelskammer schlappe 54 Prozent! Als ich im Juli bei einem Routinebesuch bei meinem Zahnarzt in Downtown San Francisco war (seit Mitte Juni wieder erlaubt), war die Innenstadt wie ausgestorben, mit vielen verbretterten Geschäftsfassaden.

Abbildung [16]: Auch im kleinsten Laden müssen Kunden ihre Maske tragen.

Äußerst verwirrend ist dabei, dass einmal unser Gouverneur Gavin Newsom Richtlinien festlegt, die für ganz Kalifornien gelten, aber die einzelnen Städte und Landkreise strengere Auflagen machen dürfen. Das hat zur Folge, dass in einem Umkreis von wenigen Kilometern manchmal verschiedene Richtlinien gelten und das tägliche Leben dementsprechend unterschiedlich organisiert ist. Zunächst fußte das Öffnen und Schließen des öffentlichen Lebens auf der sogenannten "Watch List" in Kalifornien. War ein Landkreis nach der Datenanalyse unglücklicherweise auf dieser gelandet, mussten bestimmte Geschäfte wieder schließen oder Aktivitäten herunter gefahren werden. Um nicht auf die Liste zu gelangen, musste der entsprechende Landkreis weniger als 100 neue Coronafälle pro 100.000 Enwohner aufweisen über einen Messzeitraum von 14 Tagen, und die positive Testrate unter 8% liegen. Zudem musste der Anstieg der Hospitationsrate von Covidpatienten bei weniger als 10% über 3 Tage liegen und mehr als 20% der Intensivbetten zur Verfügung stehen. Alle Landkreise in der Bay Area, also auch San Francisco, waren auf der Liste, aber keiner schaffte es, von dieser wieder runter zu kommen. Es gab viel Kritik bezüglich der "Watch List". Und plötzlich gab Gavin Newsom Ende August bekannt, dass Kalifornien die "Watch List" einstampft und ein vierstufiges Farbenklassifikationssystem (Abbildung 17 und auf der Corona-Seite von Kalifornen) einführt, das festlegt, wann wer aufmachen darf. Bei welcher Farbe/Klasse der einzelne Landkreis landet, richtet sich nach der Infektionsrate und der postiven Testrate.

Abbildung [17]: Mit verschiedenen Farben markiert der Gouvernor die Landkreise entsprechend der Corona-Infektionsraten.

Ist der Landkreis im gelben Bereich, sind also nicht mehr als eine Person pro 100.000 Einwohner infiziert, und zeigen weniger als 2% der durchgeführten Tests Corona-Positive, darf praktisch alles aufhaben bzw. -machen. Bei Lila, mit mehr als 7 Infizierten pro 100.000 Einwohner oder mehr als 8% positiver Testrate sieht es ganz schlecht aus, und nur was absolut notwenig zur Versorgung ist, hat auf. San Francisco ist momentan im roten Bereich (4-7 Infizierte pro 100.000 Einwohner, 2-4.9% positive Ergebnisse bei Corona-Tests), wonach Newsom eine Öffnung von Frisörsalons mit Sicherheitskonzept erlaubt. Auch Schulen dürften eigentlich aufmachen, aber halt stopp, dass war unserer Bürgermeisterin zuviel. Frisörsalons dürfen nur draußen die Haare schneiden und die Schulen sind immer noch zu in San Francisco. Und da mein Frisörsalon draußen nicht aufmachen will, aus welchen Gründen auch immer, schneidet und färbt mir Michael weiterhin die Haare. Das macht er mittlerweile so gut, dass wir bald unseren eigenen Frisörsalon aufmachen könnten.

Slow Streets in San Francisco

Abbildung [18]: Der Durchgangsverkehr durch diese verkehrsberuhigte Straße ist gesperrt und Anwohner nutzen sie zum Flanieren und Abhängen.

Michael Wegen eingeschränkter Entfaltungsmöglichkeiten gehen viele Anwohner in unserem Viertel genau wie wir täglich durch Stadtstraßen spazieren. Auf schmalen Gehwegen lassen sich die Abstandsregeln bei vielen Fußgängern aber nicht immer einhalten, und so kam die Stadt auf die Idee, bestimmte Straßen als verkehrsberuhigt zu deklarieren und den Spaziergängern zu erlauben, statt des Gehwegs auch die Straße zu nutzen.

Abbildung [19]: Mittlerweile hat sich das Slow-Streets-Programm über sämtliche Stadtteile ausgebreitet.

Flugs riefen Angestellte der Verkehrsabteilung der Stadt, SFMTA, das Slow Streets Program ins Leben. An den Querstraßen stellten sie große Schilder auf, die mit der Aufschrift "Road Closed To Through Traffic" darauf hinwiesen, dass die verkehrsberuhigte Straße für den Durchgangsverkehr gesperrt ist.

Abbildung [20]: Der Durchgangsverkehr durch diese verkehrsberuhigte Straße ist gesperrt und Fußgänger dürfen die Straße benutzen.

Allerdings war dieses Konzept den meisten Amerikanern unbekannt, und Anwohner wandten sich verwirrt an das Stadtviertelportal "Nextdoor", um dort anzufragen, ob es überhaupt noch erlaubt sei, mit ihrem Privatauto vor ihr Haus zu fahren. Auch zeigten sich einige sportwagenfahrende Nicht-Anlieger stur, und fuhren demonstrativ durch die mit Fußgängern gefüllten verkehrsberuhigten Straßen. Im Stadtteil Mission verschwanden über Nacht mysteriös einige der Schilder, andere fanden sich zur Seite gestupst am Straßenrand wieder.

Abbildung [21]: In den reichen Stadtvierteln wird das Programm gut angenommen, nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer nutzen die ganze Straßenbreite.

Mittlerweile hat sich die neue Regelung gut eingespielt, einige Anwohner beschweren sich zwar noch, dass sie hin und wieder von Fußgängern angemault werden, wenn sie mit ihrem Auto aus ihrer eigenen Garage ausfahren, aber besonders in den reichen Stadtvierteln wird das Programm gut angenommen. Man sieht Familien mit kleinen Kindern, die endlich auf ihren Minifahrrädern gefahrlos durch Stadtstraßen fahren können, und auch Jogger, Fahrradfahrer und Skateboarder verteilen sich über die ganze Straßenbreite. In den ärmeren oder weniger dicht bevölkerten Stadtvierteln wird das Programm teilweise ignoriert, und als Fußgänger muss man aufpassen, dass man nicht von durchfahrenden Autos erfasst wird.

Abbildung [22]: Ein Anwohner hat offenbar ein geklautes Schild einfach durch ein handgeschriebenes ersetzt.

Abbildung [23]: Ein Schild mahnt, an der Volkszählung teilzunehmen.

Angelika Kaum zu glauben, aber schon wieder sind 10 Jahre rum, und es ist Zeit für die amerikanische Volkszählung ("Census"). Dies war mittlerweile unsere dritte (2000, 2010, 2020), aber wie alles in diesen Zeiten stand sie unter dem Coronastern. Noch vor 10 Jahren gab es einen Fragebogen, der per Post zugeschickt wurde (Rundbrief 05/2010) und den dann jeder Haushalt auszufüllen hatte. Unterblieb dies, kamen freundliche Volkszähler und klopften an die Tür, um die säumigen Fragebogen anzumahnen und beim Ausfüllen der Fragebogen zu helfen. Dieses Jahr war schon vor Corona klar, dass die Behörde darauf hoffte, dass die Bürger die Fragen online beantworteten. Es war übrigens das erste Mal in der Geschichte der amerikanischen Volkszählung, dass es diese Option gab. Corona forcierte dies auch noch, um möglichst wenig Volkszähler in die verschiedenen Haushalte schicken zu müssen.

Der Wechsel von Papier zur Online-Version bereitete natürlich auch vielen Bauchschmerzen, denn es werden ja wichtige Daten mit enormer Relevanz abgefragt. Experten fürchteten Sicherheitslücken und Hackerangriffe. Das Ziel der Volkszählung ist es, wirklich jeden Bürger zu erfassen, dabei spielt weder die Staatsbürgerschaft eine Rolle, noch ob sich der Einzelne legal im Land befindet oder nicht.

Abbildung [24]: Gegen Bezahlung gehen Leute von Tür zu Tür, um die Daten für die Volkszählung zu erfassen.

Vor der Volkszählung gab es große Aufregung, weil Trump & Co forderten, die Frage der Staatsbürgerschaft mit ins Formular aufzunehmen. Viele sorgten sich, dass dies zu einem schiefen Ergebnis führen könnte, weil Bürger ohne amerikanische Staatsbürgerschaft aus Angst, dass solche Daten gegen sie verwendet werden, dann lieber gar nichts ausfüllen und abgeben. In Bundesstaaten wie Kalifornien und New York mit einem hohen Anteil an illegalen Einwanderern ist es eh schon ein Kraftakt, Illegale zum Mitmachen zu bewegen. Ein genaues Ergebnis ist aber wichtig, denn die Zahl der Einwohner bestimmt die Höhe staatlicher Finanzspritzen für den jeweiligen Bundesstaat und die Anzahl der Abgeordneten im Repräsentantenhaus. Nach einigem rechtlichen Hin und Her wurde die Frage nach der Staatsangehörigkeit schließlich doch nicht eingefügt, weil die Census-Behörde drängelte, dass die Formulare endlich in die Druckerpresse müssten bzw. die Programmierer das Softwareprogramm dementsprechend anzugleichen hätten. Von 1890 bis 1950 beinhaltete der Fragebogen übrigens die Staatsbürgerschaftsfrage.

Wie ging das nun genau vor sich mit der diesjährigen Volkszählung? Die Aufforderung landete bei uns im Briefkasten. Der Brief war übrigens nur an die Adresse addressiert und nicht auf unseren Namen (bekanntlich gibt es hier kein Meldegesetz). "To resisident at" mit unserer Adresse stand schlicht darauf.

Das Anschreiben erklärte den Sinn und Zweck der Volkszählung, wies darauf hin, dass man rechtlich verpflichtet ist, daran teilzunehmen und dass ein Papierfragebogen nach einigen Wochen zugestellt würde, falls man sich gegen die Online-Option entscheidet. Dann war groß in einem umrandeten Kasten die Webseite "my2020census.gov" angegeben und eine Identifizierungsnummer, die auf der Webseite einzugeben war, um den Fragebogen zu aktivieren. Auf der Webseite musste ich dann die folgenden Fragen für unseren Haushalt beantworten:

Abbildung [25]: Auf dem Volkszählungsbogen sind Dutzende von Fragen zu beantworten.

1. Wieviele Personen lebten oder befanden sich am 1. April 2020 in Ihrem Apartment, Haus oder Mobilheim?

2. Gab es weiterte Personen, die sich am 1. April 2020 mit Ihnen aufhielten, aber nicht in Frage 1 mit eingeschlossen wurden? (Damit sind z.B. Personen gemeint, die nur temporär in der Wohnung leben).

3. Besitzen Sie ihr Haus, Apartment oder Mobilheim, mieten Sie es oder wohnen Sie mietfrei?

4. Was ist Ihre Telefonnummer?

5. Was ist der Name, der ersten Person, die hier lebt?

6. Ist die Person männlich oder weiblich?

7. Was ist das Alter und Geburtsdatum von Person 1?

8. Ist die Person hispanischer, lateinamerikanischer oder spanischer Herkunft?

9. Was ist die Rasse von Person 1? Zur Auswahl stehen: Weiß, schwarz oder Afro-Amerikaner, Indianer oder Ureinwohner Alaskas, Chinese, Vietnamese, Hawaiianer, Japaner, Philippino, Koreaner, Inder, Samoer, Chamorro, andere Einwohner von Pazifikinseln, andere Rasse. Man kann dabei mehrere Kästchen ankreuzen.

10. Vor-und Nachname von Person 2

11. Lebt die Person in der Regel woanders?

12. In welchem Verwandschaftsverhältnis steht Person 2 zu Person 1?

13. Ist die Person männlich oder weiblich?

14. Was ist das Alter und Geburtsdatum von Person 2?

15. Ist die Person hispanischer, lateinamerikanischer oder spanischer Herkunft?

16. Was ist die Rasse von Person 2?

Das geht dann immer so weiter, je nachdem, wieviele Personen in dem Haushalt leben. Die Frage nach der Rassenzugehörigkeit ist in den USA Standard in Formularen, klingt aber für deutsche Ohren sicher merkwürdig. Das Census-Formular erklärt übrigens, warum spanisch, hispanisch und lateinamerikanisch als separate Kategorien aufgelistet werden: Weil sie für den Zweck der Volkszählung nicht als Rasse eingestuft werden. Interessant ist auch, dass der volle Name anzugeben ist. Dies soll sicherstellen, dass Personen nicht zweimal gezählt werden. Die Census-Behörde bombardiert einen übrigens schnell mit Erinnerungsschreiben, wenn man das Formular nicht sofort ausfüllt. Als wir neulich von einem unserer Spaziergänge zurück kamen, stand eine Volkszählerin vor der Tür unseres Hauses und wollte wissen, wie sie zu bestimmten Wohnungen in unserem Haus gelangen könnte, denn es gab in unserem Mietshaus drei Parteien, die das Formular noch nicht ausgefüllt hatten. Wir sagten ihr natürlich gleich, dass wir unsere schon online erledigt hatten.

Illegale Autorennen

Abbildung [26]: Auch tagsüber finden in San Francisco mitten in der Stadt auf öffentlichen Straßen sogenannte "Sideshows" statt.

Michael Neulich wachte ich mitten in der Nacht auf, weil in unserem eher noblen und ruhigen Wohnviertel auf einmal ein Getöse infernalen Ausmaßes ausbrach. Ich hörte das typisch blecherne Motorenscheppern überdrehter amerikanischer Muscle-Cars und Reifengummi, der sich quietschend über Asphalt abrieb. Kein Zweifel: Die unausgelasteten Jugendlichen, die sonst auf Supermarktparkplätzen in Oakland ihre Kärren sogenannte "Donuts" drehend im Kreis fahren, hatten nun auch unser idyllisches Wohnviertel für ihre illegalen Aktivitäten entdeckt.

Abbildung [27]: Am nächsten Tag zeigen sich Spuren nächtlicher Sideshows auf den Straßen.

Und während sonst untertags jede Fußballmutti, die ihren Minivan am Stoppschild nicht ordnungsgemäß zum kompletten Stillstand bringt, gnadenlos rausgezogen und mit einem $400-Dollar-Strafmandat belegt wird, schritt die Polizei bei den aufgedrehten Jugendlichen aus Angst nicht ein. Von Anwohnern alarmierte Polizisten blockten lediglich den sonstigen Verkehr an den betroffenen Kreuzungen und ließ die Donut-Fahrer gewähren. Als diese genug hatten, fuhren sie ungestraft wieder heim, unbelangt auch, als sie dabei Dutzende roter Ampeln und Stoppschilder mit Vollgas überfuhren.

Abbildung [28]: Trotzige Nachbarn beharren darauf, dass die Mittel für die Polizei gestrichen werden.

Das zeigt euch, dass mittlerweile in San Francisco eine Zwei-Klassengesellschaft herrscht: Gesetze gelten für die Reichen, die Mittellosen dürfen sich straffrei austoben. "Victimless Crime" nennt dies der neuerdings von ahnungslosen Deppen ins Amt gewählte Staatsanwalt Chesa Boudin. Auf dem Papier sind Straßenrennen freilich illegal, wird ein Fahrer erwischt, drohen nicht nur der Entzug der Fahrerlaubnis sondern auch Geld- oder Gefängnisstrafen. Allerdings ist die Polizei in San Francisco neuerdings dazu übergegangen, die Chaoten nicht mehr rauszuziehen, sondern lässt sie einfach machen und sieht tatenlos zu, um Konfrontationen zu vermeiden. Den restlichen Anwohnerverkehr leiten sie weiträumig um, damit's nicht zu Unfällen kommt. Eine bizarre Welt.

Mancherorts steht sogar das bloße Zuschauen bei Side-Shows unter Strafe! So kam letztes Jahr in San Jose ein Gesetz durch, das Anwesende bei Side-Shows mit einer Geldstrafe von $1000 oder 6 Monaten Gefängnis abwatscht. Wohlhabende Bürger suchen besser gleich das Weite, wenn die Reifen zu quietschen beginnen!

Liebe Grüße aus der närrischsten Stadt der Welt:

Angelika und Michael

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Letzte Änderung: 20-Apr-2021