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  Rundbrief Nummer 12  
San Francisco, den 20.12.1998
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Abbildung [1]: Weihnachtsgrüße von unserem Hausdach

Weihnachten 1998

(Angelika) Nachdem euch Michaels letzter Rundbrief scheinbar gut unterhalten hat, wie wir an den Rückmeldungen erkennen konnten, möchte ich doch noch etwas zum Nachdenken beitragen, schließlich steht ja Weihnachten vor der Tür. Außerdem müssen wir ja unsere Rollenverteilung aufrechterhalten: Michael ist für das Lustige zuständig und ich für das Soziale; oder vielleicht doch nicht? Wie dem auch sei, auch ich würde mich über zahlreiche Rückmeldungen freuen. Also hier kommt meine kleine Weihnachtsgeschichte. Das Szenario kann ich zweimal in der Woche live erleben, wenn ich ins Tenderloin in den Kindergarten gehe:

Peter und Susan sitzen auf der Erde und bauen Türme aus Bauklötzen, wobei Susan jedes Mal vor Freude in die Hände klatscht, wenn der Turm krachend in sich zusammenfällt. Andrea sitzt auf dem kleinen Sofa in der Leseecke und betrachtet versonnen ein Bilderbuch. Jim und Tom haben sich rote Feuerwehrhelme aufgesetzt und gelbe Gummistiefel angezogen und rennen die Feuerwehrsirene nachahmend durch das Zimmer. Pat und Cathie ziehen es vor, Popstars zu imitieren. Mit Bauklötzen bewaffnet, die als Mikrofone dienen, singen sie lauthals und übertönen dabei die Feuerwehrsirenen der Jungen.

Wir befinden uns nicht etwa in einem Kindergarten zwischen Wanne-Eickel und Fürstenfeldbruck. Wir sind im tiefsten Tenderloin, ein Stadtteil in Downtown San Francisco. Hier zeigt sich San Francisco von seiner nicht so freundlichen Seite. Es gibt keine Golden Gate Bridge, die rot im Sonnenlicht erstrahlt, kein Cable Car, keine netten Cafes und viktorianischen Häuser und natürlich verirren sich nur wenige Touristen in dieses Viertel. Hier will man und sollte man nicht wohnen und dennoch leben in diesem Viertel tausende von Kindern mit ihren Familien. Treten wir doch einfach vor die Tür des Childcare Centers und schauen uns ein wenig um.

Zunächst fällt auf, dass die meisten Schaufenster vergittert sind. Einen Gap-Klamottenladen oder etwa die Kaffeehauskette "Starbucks", die sonst an jeder Straßenecke in San Francisco anzutreffen sind, sowie einen normalen Supermarkt sucht man vergebens. Dafür gibt es an jeder zweiten Straßenecke sogenannte Liquor-Stores (Läden, in denen man Alkohol kaufen kann). Auf der Turk Street findet man auch noch den Laden mit dem vielversprechenden Namen 'Krimskrams'. Was er verkauft, ist allerdings nicht ganz so vielversprechend. 'Krimskrams' ist nämlich die freundliche Umschreibung für die ältesten Möbel und Elektrogeräte, die man sich vorstellen kann -- Sperrmüll wird hier sozusagen zu Geld gemacht. Apropos Sperrmüll, auf der Straße versuchen Drogenabhängige und Obdachlose das zu verscherbeln, was andere weggeschmissen haben und sie in Mülltonnen finden konnten (Spielzeug, Klamotten, alte Zeitschriften, Radios, etc.). Manchmal sind auch nagelneue Sachen dabei, z.B. Pullover mit dem Logo 'Gap', und wir gehen jetzt lieber nicht näher darauf ein, wie die 'Straßenhändler' an diese neuen Sachen gekommen sind. Besonders traurig ist, wenn Lebensmittel zum Verkauf am Straßenrand aufgereiht sind, da dies in der Regel bedeutet, dass Drogenabhängige versuchen, Bargeld zu bekommen, um Drogen zu kaufen. Ein Teil der amerikanischen Sozialhilfe wird nämlich in Lebensmittelmarken ausgegeben, die man in den meisten Supermärkten gegen bestimmte Lebensmittel eintauschen kann.

Trotz der Hoffnungslosigkeit, die einem auf Schritt und Tritt begegnet, hoffen doch viele in diesem Viertel, dass der amerikanische Traum kein Mythos ist. Da gibt es z.B. den 'Allstar Donuts Shop', der von asiatischen Immigranten geführt wird. Hier gibt es täglich frische Donuts (das ist die amerikanische Variante des Berliners/Krapfens) sowie gutes und günstiges Mittag- und Abendessen. Die Inhaber arbeiten von morgens bis abends in ihrem Laden, 365 Tage im Jahr, immer dem Traum hinterherjagend, eines Tages ein eigenes Haus in einem der besseren Viertel von San Francisco zu besitzen. Gleich nebenan im Balboa Hotel holt einen jedoch die Realität wieder ein. Das Balboa Hotel ist ein Billighotel. Es werden primitivste Zimmer für dennoch nicht immer erschwingliche Preise vermietet. Jeden Morgen stehen hier die Obdachlosen an, um ein Zimmer für die Nacht zu ergattern. Im Winter werden die Schlangen zusehends länger, denn es regnet mehr und ist kälter. Auch diesen Winter wird es nicht genug Unterkünfte und Zimmer in San Francisco geben.

Der Dreck und Gestank dieses Viertels ist nichts für zartbesaitete Seelen und ist manchmal so unerträglich, dass es einem den Magen schon einmal umdrehen kann -- Normalität für die Kinder, die hier aufwachsen. Auch die vielen Gestrandeten der amerikanischen Gesellschaft gehören zum Straßenbild: die Drogenabhängigen, die Obdachlosen, die Prostituierten, die Transvestiten und die vielen, für die sonst nirgendwo Platz ist. Da gibt es zum Beispiel die alte chinesische Frau, die sich Plastiktüten um ihre Hände gewickelt hat und die Mülltonnen nach Getränkedosen absucht, um diese gegen ein paar Cents am Recyclingcenter einzutauschen -- die fast schon makabere Variante des amerikanischen Umweltschutzes. Sie sitzt oft stundenlang zusammengekauert vor einer Mülltonne und klopft monoton die Dosen klein. Oder der alte, schwarze Mann mit dem freundlich-lächelndem Gesicht, der immer eine karierte Anzugjacke trägt und viel zu kurze Hosen anhat. Stundenlang steht er an der Kreuzung Turk Street, Ecke Hyde Street und starrt auf die gegenüberliegende Straßenseite -- das Lächeln auf seinem Gesicht verschwindet nie. Oder die junge Frau, die stets am Straßenrand sitzt und ihren von Drogen gebeutelten Körper schaukelt. Ihr Gesicht wirkt völlig leer und erhellt sich nur, wenn wir mit den Kindern an ihr vorbeigehen. Sie findet immer ein nettes Wort für die Kinder, wobei es sie fast übermenschliche Kräfte kostet, die Worte herauszubringen.

Im Tenderloin Kind zu sein, bedeutet, dass man nicht alleine auf die Straße gehen kann -- es ist zu gefährlich. Und wo soll man auch spielen, wenn die wenigen Parks, die Spielgeräte haben, von Drogendealern, Prostituierten und Gangs besetzt gehalten werden? Eine Bürgerinitiative hat es allerdings mit Hilfe von städtischen und privaten Geldern geschafft, ein Kinder- und Jugendzentrum im Viertel zu errichten. Hier können die Kinder ihre Hausaufgaben machen, Basketball spielen, basteln und den angrenzenden Spielplatz benutzen. Die Drogendealer müssen draußen bleiben, denn der Spielplatz ist mit einem hohen Zaun umgeben und nur über das Gebäude des Zentrums zugänglich. Auch wir gehen fast täglich zu diesem Spielplatz, da das Childcare Center keinen eigenen hat. Oder wir machen uns auf den Weg zum Civic Center, wo es ebenfalls einen nagelneuen, eingezäunten Spielplatz gibt. Der Zaun ist allerdings nicht hoch genug, so findet man des öfteren gebrauchte Spritzen oder es riecht penetrant nach Urin, auch ein deutliches Zeichen dafür, dass der Spielplatz zweckentfremdet wurde. Während auf dem Spielplatz die Kinder rutschen, klettern und schaukeln, spielen sich hinter dem Zaun menschliche Dramen ab: Drogen werden verkauft und gespritzt, Menschen verhaftet, wobei die Polizisten nicht gerade zimperlich mit den Verhafteten umgehen, Prostituierte verschwinden mit Freiern in öffentlichen Toiletten.... Viele der Kinder werden von diesen Dramen magisch angezogen, für manche von ihnen ist es auch eine Wiederholung der häuslichen. So unterbrechen sie des öfteren ihr Spiel und stellen sich an den Zaun, um zu beobachten, was vor sich geht. Es kostet oft alle pädagogische Überredungskunst, um sie wieder für ein Spiel zu begeistern.

Zurück in die Räume des Childcare Centers. Die Kinder erzählen, was sie sich zu Weihnachten wünschen. Andrea träumt von Nagellack, Anne wünscht sich einen Power Ranger und Cathie eine Barbie-Puppe. Peter hofft auf ein Kuscheltier. Ganz normale Kinderwünsche, die einen fast vergessen lassen, wo wir uns befinden.

In diesem Sinne wünschen wir euch allen frohe, besinnliche Weihnachten und ein gutes 1999, in dem wir hoffentlich viele von euch wiedersehen werden. Wir werden Weihnachten in San Francisco verbringen. Vielleicht denkt ihr ja mal an uns im fernen "Old Germany".

Angelika & Michael

P.S.: Übrigens haben wir das Foto für unsere Weihnachtskarte auf unserem Dach aufgenommen, auf das man über die Feuerleiter gelangt. Im Hintergrund seht ihr die Bay Bridge und Hochhäuser von Downtown San Francisco.

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