Angelika/Mike Schilli |
Das Präsidentenwahldesaster
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Entensuppe
Rundbrief-Topprodukt
Japanische Supermärkte
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(Angelika) Amerika hat noch immer keinen neuen Präsidenten. In Deutschland beobachtet ihr diesen Wahlkrimi sicherlich mit einem Kopfschütteln und vielleicht auch mit ein wenig Schadenfreude, denn es ist schon faszinierend, dass ein Land, das sich immer damit brüstet, führend in diesem und jenem zu sein, es nicht schafft, Wahlstimmen akkurat auszuzählen. In der deutschen Presse wurde zwar ausführlich über die amerikanische Wahl berichtet -- aber trotzdem möchte ich noch einige Details nachreichen, weil sich so einige klassische amerikanische Phänomene zeigen:
Da ist zunächst einmal das hochkomplizierte und doch schon recht altmodisch anmutende Wahlverfahren. Der amerikanische Präsident wird nämlich nicht direkt vom Volk gewählt, sondern von einem Wahlmännergremium, dem sogenannten "Electoral College". Jeder amerikanische Bundesstaat entsendet Wahlmänner ins Gremium. Mindestens 270 (bei insgesamt 538) Wahlmännerstimmen braucht ein Kandidat, um Präsident zu werden. Nun stehen aber nicht jedem Bundesstaat die gleiche Anzahl von Wahlmännern zu. Je bevölkerungsreicher der Bundesstaat, desto mehr Wahlmänner entsendet dieser Staat. Kalifornien ist zum Beispiel einer der bevölkerungsstärksten Bundesstaaten und entsendet deshalb 54 Wahlmänner ins Gremium, Hawaii hingegen nur 4. Die Wahl am 7. November diente also dazu, die Zusammensetzung der Wahlmännergruppe zu bestimmen. Dabei gilt in der Regel, dass der Kandidat, der in dem jeweiligen Bundesstaat gewinnt ("popular vote" genannt), alle Wahlmännerstimmen ("electoral vote") dieses Staates erhält. Und Gewinnen bedeutet bei diesem Schritt nicht etwa die absolute Mehrheit, selbst ein Vorsprung von einer Handvoll Stimmen reicht, um alle Wahlmännerstimmen einzuheimsen. Deshalb ist Florida zur Zeit das Zünglein an der Waage. Ohne die Wahlmännerstimmen des Staates Floridas können weder Bush noch Gore die absolute Mehrheit im Wahlmännergremium erreichen. Die Wahlmänner sind übrigens in der Regel langjährige, treue Parteimitglieder, um sicherzustellen, dass sie nicht abweichend vom Volkeswillen stimmen. Skurril mutet bei diesem System an, dass ein Kandidat zwar auf ganz Amerika bezogen mehr Stimmen haben kann als sein Mitstreiter, aber trotzdem weniger Wahlmännerstimmen erhält. Dies ist bei dieser Wahl bereits der Fall, da Al Gore die "popular vote" (amerikaweit abgegebene Stimmen) für sich verbuchen konnte. Trotzdem wird wahrscheinlich Bush Präsident werden.
Das Wahlmännergremium soll am 18. Dezember zusammenkommen, um den Präsidenten zu wählen. Die offizielle Amtsübernahme ist dann erst am 20. Januar. Das Wahlmännersystem stammt übrigens aus dem Jahre 1787 und sollte u.a. sicherstellen, dass die Bundesstaaten genügend Mitspracherecht erhalten. Es wurden schon unzählige Vorstöße gewagt, das Wahlmännersystem zu modifizieren, bisher ohne Erfolg. Bleibt nur zu hoffen, dass nach diesem Wahldesaster endlich etwas passieren wird. Einige böse Stimmen meinen schon, dass man gar nicht das Wahlsystem ändern muss, sondern dass es vielleicht schon helfen würde, modernere Zählmaschinen anzuschaffen. In Deutschland wundert ihr euch vielleicht, wie es sein kann, dass nicht jeder Bundesstaat bei einer Präsidentenwahl die gleiche Technik verwendet. Hier kommt eben wieder das Prinzip durch, dass jeder Bundesstaat weitreichende Entscheidungsfreiheit hat. So gibt es eben nicht nur in einigen Bundesstaaten in Amerika die Todesstrafe und in anderen nicht. Nein, man hat auch unterschiedliche Technologie zum Auszählen von Stimmen und unterschiedliche Wahlzettel. Diese können übrigens nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden sein, sondern von Wahlkreis zu Wahlkreis. So kommt es, dass einige Amerikaner Kreuze machen, andere schwarze Striche in ein vorgegebenes Feld und wieder andere stanzen Löcher. Dazu werden die Wahlzettel in eine Vorrichtung eingespannt und man erhält ein stiftähnliches Gebilde und muss mit diesem ein vorgezeichnetes Loch ausstanzen -- neben dem Namen seines Wunschkandidaten. Und diese Wahlmethode hat in Florida zum Chaos geführt. Wo ein Loch gestanzt wird, gibt es kreisrunden Konfetti-Abfall, in Amerika "Chad" genannt.
Dummerweise ist dies scheinbar nicht so einfach, denn manchmal hängt dieser Stanzabfall noch wie am seidenen Faden an der Wahlkarte. Die Zählmaschine begreift dann nicht, was los ist und wirft die Wahlkarte als ungültig raus. Deshalb sollte das Handzählen in Florida genauere Ergebnisse geben. Die Frage, die dabei durchs Land ging, war nun: Was zählt als gültige Stimme? So wurden die "Chads" auch noch kategorisiert. Meine beiden Favoriten sind: "pregnant (schwangere) chads", die Lochabfälle also, die sich fast gar nicht von der Karte gelöst haben, und "dimpled (eingedellte) chads", bei denen nur eine Ausbeulung zu sehen ist. Da es leider nun aber in Florida keine einheitlichen Richtlinien für Handzählungen gibt, sah man auf jedem Kanal im Fernsehen Experten über "Chads" streiten - ein perfektes absurdes Theater.
Obwohl am letzten Sonntag (26.11.) in Florida um 17 Uhr Ortszeit das Ergebnis der Auszählungen (einschließlich der so umstrittenen Handzählungen) bekannt gegeben wurde, heißt das noch lange nicht, dass der Sieger der 25 Wahlmännerstimmen in Florida, George Bush, auch der Sieger bleiben wird, denn es sind noch unzählige Klagen vor den verschiedensten amerikanischen Gerichten anhängig.
Entscheidend ist jetzt vor allen Dingen, was der amerikanische "Supreme Court" (so etwas wie das Bundesverfassungsgericht in Deutschland) in den nächsten Tagen beschließen wird. Die Frage ist nämlich, ob der oberste Gerichtshof in Florida befugt war, Handauszählungen in Florida über der im Wahlgesetz festgelegten Frist hinaus zu erlauben. George Bush sagt, die Richter in Florida hätten ihre Befugnis überschritten. Al Gore hingegen meint, dass alles seine Richtigkeit hatte, denn keine Wählerstimme darf unter den Tisch fallen.
Sensationell ist übrigens, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte der USA der Oberste Gerichtshof in Washington in eine Wahl einmischt. Der Amerikaner glaubt nämlich -- wie bereits erwähnt -- fest an die Hoheit der Einzelstaaten und Wahlgesetze sind nun einmal auch bei der Präsidentenwahl bundesstaatliche Angelegenheit, also in diesem Fall die Sache Floridas. Der Supreme Court kann durch eine Entscheidung im Sinne Bushs aber nur dessen Vorsprung erhöhen. Zur Zeit liegt Bush in Florida mit 537 Stimmen vor Gore. Werden die Handzählungen über die Frist hinaus für ungültig erklärt, wächst der Vorsprung auf 930 Stimmen an und der Streit in den Gerichtssälen spielt sich danach wieder in Florida ab. Gore möchte nämlich erreichen, dass in einem County (einen "County" könnte man mit einem deutschen Landkreis vergleichen) namens "Leon" von Hand gezählt wird, da dort die Zählmaschinen einige tausend Stimmzettel nicht berücksichtigt haben. Und da dieser County in der Regel demokratisch wählt, hofft Al Gore, durch eine Handzählung Stimmen zu gewinnen und Bush doch noch zu schlagen.
Das Problem ist nur, dass die Zeit läuft und die Handzählung eigentlich sofort beginnen müsste. Am 12. Dezember müssen nämlich die Wahlmänner definitiv benannt sein, damit diese dann am 18. Dezember ihre offiziellen Stimmen abgeben und den Präsidenten wählen. Und das Handzählen kann dauern. In Florida droht nun schon das Landesparlament, einfach die Wahlmänner eigenhändig zu benennen, wenn immer noch kein richtiges, amtliches Wahlergebnis vorliegt am 12. Dezember. Das Problem ist nur, dass das Landesparlament in Florida eine republikanische Mehrheit (also eine Mehrheit der Partei, der George Bush auch angehört) hat und somit republikanisch gesinnte Wahlmänner bestimmen würde. Angeblich soll das Ganze legal sein, aber das halte ich nun doch für sehr anrüchig, da ja dann die Stimmen der Bevölkerung in Florida überhaupt nicht berücksichtigt würden.
Apropos Medien: Die haben sich in der Wahlnacht sehr amerikanisch gebärdet, scheuten sie sich doch nicht (auf der Jagd nach höheren Einschaltquoten) Meldungen zu verbreiten, die nur auf einer wagen Prognose basierten -- und auch glatt falsch waren. So ging Florida erst an Al Gore, dann an Bush. Erst danach verbreitete man, dass das Ergebnis zu knapp war ("too close to call") und erst alle Stimmen ausgezählt werden müssten. Solche Falschmeldungen können übrigens durchaus das Wahlergebnis beeinflussen, da durch die verschiedenen Zeitzonen zum Beispiel die Wahllokale an der Westküste noch geöffnet sind, wenn in anderen Bundesstaaten schon gezählt wird.
Das knappe Wahlergebnis zeigt übrigens auch sehr deutlich die Lage der Nation. Keiner der Kandidaten hat die Amerikaner so richtig vom Hocker gerissen und das Land wirkt wie eine gespaltene Nation. Die Bundesstaaten an der Küste sowie an den großen Seen (traditionelle Hochburg der Gewerkschaften) gingen an den liberaleren Gore, der sich für bessere Sozialprogramme, Umweltschutz, Verbesserung der Gesundheitsfürsorge, strengere Waffengesetze, den Abbau der Staatsschulden und Umweltschutz sowie mehr staatliche Kontrolle (ein sehr heikles Thema in Amerika) stark macht, während die Staaten in der Mitte an den konservativen Bush fielen, der Steuersenkungen (vor allen Dingen für die Finanzkräftigen), das Recht auf Waffenbesitz, Stärkung des Militärs, Umweltschutz auf freiwilliger Basis und so wenig staatliche Regelungen wie möglich propagiert. Ich frage mich ja, wie überhaupt jemand so geistig umnachtet sein kann und seine Stimme für Bush abgibt, aber ich scheine immer wieder zu vergessen, dass San Francisco nicht mit dem Rest der USA zu vergleichen ist. Nicht nur, dass die Wahlbeteiligung in San Francisco für amerikanische Verhältnisse stets enorm ist (um die 80% bei dieser Wahl, ca. 50% war die Wahlbeteiligung auf ganz Amerika bezogen), sondern es wird stets der liberalere Kandidat gewählt, wobei vielen in San Francisco Al Gore viel zu rückständig ist und die meisten lieber Ralph Nader von den amerikanischen Grünen gewählt hätten. Allgemein finde ich interessant, dass alle offen darüber reden, wen sie gewählt haben, das ist absolut kein Tabu.
Vielleicht interessiert euch auch noch, wie man sich in Amerika als Wähler registrieren lässt, da es ja keine Meldepflicht gibt. In San Francisco stößt man z.B. auf öffentlichen Plätzen oder in der U-Bahn öfter auf Leute, die mit Listen herumrennen, in die man sich eintragen kann, um sich als Wähler registrieren zu lassen. Oder Behörden wie die Führerscheinstelle schicken Formulare zum Registrieren mit. Wahlberechtigt sind nur amerikanische Staatsbürger, die mindestens 18 Jahre alt sind. Wer nur eine Greencard oder ein Visum besitzt, darf nicht wählen. In den meisten amerikanischen Bundesstaaten dürfen auch verurteilte Verbrecher nicht wählen, wobei dies in einigen wenigen Bundesstaaten erschreckender Weise sogar lebenslang gilt.
Nun ja, die amerikanischen Gerichte müssen entscheiden. Das ist auch wieder so ein amerikanisches Phänomen: Klagen, was das Zeug hält. Faszinierend finde ich auch, dass nicht die große Staatskrise wegen dieses Wahldesasters ausgebrochen ist. Es werden zwar vermehrt Stimmen laut, dass es jetzt auch mal wieder gut ist, aber keiner kritisiert Amerika per se. Noch im größten Chaos wird immer wieder betont, wie gut und demokratisch doch alles zugeht und wie dankbar man ist, "in dem großartigsten Land" der Welt zu leben. Das finde ich schon sehr befremdlich. Dass das Ausland sich heftig über Amerika lustig macht, wird natürlich nicht erwähnt. Wie dem auch sei, es bleibt spannend...
(Michael) Endlich, endlich komme ich dran! Zur heutigen Rundbrief-Quizfrage: Für welchen Kandidaten hätte Angelika gestimmt, hätte sie wählen dürfen? Haha, nur ein Scherz. Zur Wahl wollte ich nur noch nachtragen, dass Abbildung 2 deutlich macht, wie sich Republikaner und Demokraten das Land aufteilen: Die Mitte für Bush und die Küstengebiete für Gore. Und obwohl es auf den ersten Blick so aussieht, als hätte Bush flächenmäßig haushoch gewonnen, lief es letztlich fast auf ein Unentschieden hinaus, da die Bundesstaaten in der Mitte der USA viel dünner besiedelt sind und demnach weniger Wahlmänner stellen.
(Michael) Neulich war ich wieder einmal für ein paar Tage in Dulles, Virginia, um dort bei AOL einige Dinge zu erledigen. Als auf dem Heimweg unser Flugzeug Verspätung hatte und wir uns noch schnell ein Mittagessen einverleiben wollten, stießen mein Kollege Chris und ich auf eine Schänke, die mit einem Schild "Oktoberfest" ihr Bier anpries. Nebenan war ein McDonald's und so entschieden wir uns rasch, das Essen von einem Laden und das Getränk des anderen miteinander zu verbinden. Plötzlich rauschte eine Gruppe deutschsprechender Herren vorbei -- und ich traute meinen Augen nicht, unter ihnen der Schauspieler Armin Müller-Stahl! Ihr wisst schon, das ist der Grauhaarige mit dem Schnauzer, der auch viel in amerikanischen Filmen spielt ("Night on Earth" von Jim Jarmusch zum Beispiel). Auch ihm fiel das "Oktoberfest"-Schild auf, er bremste ab und ging zurück, hatte wohl im Auge, sich ein Bier einzuverleiben, überlegte sich's aber dann anders und schwirrte wieder ab. Und das in Dulles/Virginia! Was der wohl da machte?
(Michael) Nun zu den Lokalnachrichten. Wer das neue Album "Warning" der weltbekannten Gruppe "Green Day" gekauft hat, hat sich vielleicht gewundert, was die folgenden Textzeilen bedeuten:
"Mr. Whirly" had a catastrophic incident
he fell into the city by the bay
he liquidated his estate
now he sleeps upon the Haight
panhandling misery
Mit "City by the Bay" ist natürlich San Francisco gemeint und der "Mr. Whirly", dem das Unheil widerfuhr, musste sein Haus verkaufen und auf der "Haight" übernachten, dem Viertel in San Francisco, in dem die letzten Hippies wohnen. Weil der Golden Gate Park so nahe ist, wo man in der Nacht im Wald zwar unbequem aber umsonst knäcken kann, ist diese Gegend besonders beliebt bei Obdachlosen, zu denen übrigens auch viele jugendliche Ausreißer gehören. Wenn die Börsenkurse weiter so fallen, sind wir auch bald dort! Nein, nein, war nur Spaß, bitte schickt noch kein Geld. Nein, was ich damit sagen wollte: Die weltbekannte Gruppe "Green Day", die ich auch schon in München gerne hörte, kommt aus Berkeley -- direkt bei San Francisco, auf der gegenüberliegenden Seite der Bay Bridge.
(Michael) Zu unserer Wein-Rubrik: Paula Bosch von der Süddeutschen Zeitung hat sich noch nicht gemeldet, also scheinen unsere Tipps zumindest nicht grob falsch zu sein. Hier kommt der nächste: Bei einer unserer Exkursionen durch das Sonoma Valley stolperten wir über einen hervorragenden Zinfandel-Wein. Und ich scheue mich nicht, dies in die Welt hinauszuposaunen: Der St. Francis, "Old Vines", Zinfandel, 1998 ist so kraftvoll, der haut einen glatt um. Ein außergewöhnliches Aroma von Himbeeren und Vanille. Wie schon einmal erwähnt ist das natürlich roter Zinfandel, das rosa Zeug trinkt kein vernünftiger Mensch. Ideal für Gerichte mit Knoblauch oder sonstige scharfe Sachen. Kostet $22, kein Pappenstiel, aber das Geld ist gut angelegt.
(Michael) Nun zu Michaels heutigem Schwerpunktthema: Redefreiheit in den USA! Der Verfassung hier sind einige Anhänge angeschlossen, die sogenannten Amendments. Das erste Amendment ist "Freedom of Speech", die Redefreiheit, die hier ja wirklich der Rede wert ist und nicht so eingeschränkt wie in Deutschland:
"Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the government for a redress of grievances."
Das komische Englisch rührt daher, dass das a) ein Gesetzestext ist und b) von 1791. Soweit, so trocken. Lasst mich die Bedeutung dieses Teils der Verfassung an einem praktischen Beispiel erklären: Will man in den USA jemanden beleidigen, tippt man nicht mit dem Zeigefinger gegen die Stirn -- dieses Zeichen bedeutet nichts Böses, es heißt höchstens: Ich bin schlau. Niemand nimmt das überhaupt zur Kenntnis, das geht mir öfter so, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, mir wieder irgendein Depp den Weg abschneidet, ich schreie und den Vogel zeige und nur fragende Gesichter ernte. Das ist immer sehr lustig, aber das sind jahrzehntelang einprogrammierte Verhaltensweisen, die ich leider nicht abstellen kann.
Nein, ernsthaft beleidigt wird hier mit dem hochgestreckten Mittelfinger. Und das Gute dabei: Das ist verfassungsrechtlich mit dem oben angegebenen "Amendment" abgesegnet und nicht strafbar. Ohne Schmarren, die beleidigte Person kann absolut nichts unternehmen, außer natürlich die Pistole zu ziehen und zu schießen, aber das Waffenrecht nehmen wir erst im nächsten Rundbrief durch. Man kann auch "Du @#$@!" schreien. Fügt das schlimmste Schimpfwort, das ihr kennt, ein -- was immer man sagen oder andeuten will, kann man vollkommen ungestraft von sich geben, kein Problem. Solange man die andere Person nicht anfasst, ist alles erlaubt. Überschreitet man diese Grenze allerdings, hagelt's drakonische Strafen. Wenn man jemanden nur mit dem Finger antippt, kann der einen sofort vor den Kadi zerren und auf Millionen verklagen. Mündliche oder gestenhafte Beleidigung ist jedoch absolut bedeutungslos -- wenn ich meinen amerikanischen Kollegen davon erzähle, dass sich in Deutschland Autofahrer anzeigen, weil einer gegen die Stirn getippt hat, lachen die sich kaputt.
Es gibt zwei Ausnahmen von "verbal abuse", also "gesprochenem Missbrauch": Man darf in einem vollbesetzten Kino nicht "Feuer, Feuer!" schreien. Und man darf nicht damit drohen, den Präsidenten der USA zu ermorden. Ein Arbeitskollege hat mir mal erzählt, dass einer seiner Mitschüler einmal in einem Schulaufsatz dergleichen geschrieben habe und daraufhin gleich die Polizei angerückt sei. Ganz im Ernst, nur diese beiden Ausnahmen sind strafbar, alles andere ist durch die Verfassung geschützt.
Unser Freund Greg hat die Gültigkeit des ersten Amendments einmal unwiderlegbar bewiesen, indem er auf der Autofahrt von der Arbeit nach Hause sämtlichen Autofahrern auf dem Highway ohne Grund den Finger zeigte -- und ein oder zwei tadelnde Blicke, aber keinerlei Aggressionen erntete. Er behauptete sogar, man dürfe Polizisten nach Belieben beleidigen, das wollte ihn der rasende Rundbriefreporter dann aber doch nicht ausprobieren lassen.
"Freedom of Speech" heißt auch, dass hier jede politische Partei uneingeschränkte Redefreiheit besitzt. Die ersten Einwanderer der USA waren ja von der Politik oder religiösen Institutionen Verfolgte, die hier Schutz suchten und deshalb verankerten die Verfassungsväter die uneingeschränkte Rede- und Religionsfreiheit als eines der wichtigsten und umfassensten Prinzipien. Dies ist übrigens auch der Grund, warum die Amerikaner immer tadelnd nach Deutschland sehen, wenn die Sekte Scientology mal wieder verfolgt wird -- hier wäre das undenkbar, das würde eine Revolution auslösen.
Übrigens gilt die vorher erwähnte Redefreiheit nicht im Radio oder Fernsehen -- das wird streng von einer Behörde namens FCC (Federal Communications Commission) kontrolliert. Es ist zum Beispiel nicht erlaubt, auch nur Scheiße! (Shit!) im Rundfunk oder Fernsehen zu sagen. So gibt es von den aktuellen Rap-Songs, die nicht mit wüsten und noch wüsteren Worten sparen, grundsätzlich die Original-Version auf CD, auf der dann der Aufkleber "Parental Advisory -- EXPLICIT LYRICS" prangt ("Warnung an alle Eltern: Eindeutige Sprache"), und die Radio-Version, aus der mit raffinierten technischen Mitteln die unanständigen Wörter schon von der Plattenfirma ausgeblendet wurden. Da spielt dann die Musik im Hintergrund weiter, während der Sänger plötzlich nicht mehr zu hören ist. Das ist oft ziemlich albern, denn anhand der sich reimenden Textstellen kann man in 9 von 10 Fällen das gesuchte Wort einfach ableiten:
You better quit
talkin' that ---
or you'll be leaving with a fat lip.
Limp Bizkit, "Break Stuff".
Talkshow-Fernsehsendungen, in denen sich die Leute wüst beschimpfen (zum Beispiel "Jerry Springer"), werden vor der Ausstrahlung überarbeitet und unanständige Worte durch einen Piepton (englisch: Bleep) übertönt. Wenn's dann richtig zur Sache geht, hört man oft vor lauter Ge-bleepe den Text nicht mehr. Das ist übrigens auch eine beliebte Humorquelle: Wenn jemand im Fernsehen redet und plötzlich übertönt ein Piepton jedes zweite Wort, gibt das immer zu Gelächter Anlass, weil man dann weiß, dass die Person lauter unanständige Wörter benutzt. Ha. Haha.
Bei Live-Sendungen steigt natürlich der technische Aufwand. Von einer berühmt-berüchtigten Radiosendung namens "Lamont and Tonelli" auf 92.3 KSJO, die ich bis vor einem Jahr noch immer auf der Autofahrt von San Francisco nach Mountain View hörte (jetzt höre ich, wenn ich Auto fahre, Howard Stern auf 105.3) weiß ich, dass diese um 20 Sekunden (!) zeitverzögert ausgestrahlt wird. Die Moderatoren sind natürlich alte Füchse, denen niemals ein böses Wort entschlüpft und die im Zweifelsfall ein Kunstwort benutzen, das so ähnlich klingt -- das ist legal. Aber bei der genannten Radiosendung dürfen auch ganz normale Leute anrufen und ungefiltert ihre Meinung sagen. Benutzt einer ein unanständiges Wort, löst ein vom Radio angestellter Zensor Alarm aus, der betreffende Satz wird -- in Echtzeit! -- ausgeblendet und die Zuhörer hören statt dem Rest des Satzes das Geräusch einer Klospülung. Wenn man sich vorstellt, wie das funktioniert, wird einem schwindelig. Meiner Theorie nach muss dieses 20-Sekunden-Sicherheitsintervall mit jedem Vorfall zusammenschmelzen, bis die Senderleute wieder drei Minuten Musik von einem superschnellen CD-Spieler spielen müssen, um den Sicherheitskanister wieder aufzufüllen.
Im Kino und im Pay-TV sind sprachliche Ausfälle hingegen gestattet -- aber der Film ist dann ab 13 und die Plakate warnen vor der "Erwachsenensprache" (Adult Language). Nun zu den Nachrichten aus der Church Street.
(Michael) Letzte Woche verbrachte ich unter dem Wohnzimmertisch mit meinem aufgeschraubten Computer. Leichtsinnigerweise hatte ich mir von einem Internetversand neue Hardware gekauft. Für die Insider: Eine 30-GB-Festplatte und einen Netgear RT314-Router. Jetzt bin ich im siebten Himmel, und auch Angelika braust von ihrem Computer aus mit Höchstgeschwindigkeit im Internet herum, da das Routerlein aus einem DSL-Anschluss einfach zwei macht. Und noch eine bedauerliche Nachricht: Unser Zeitungshändler kriegt die Süddeutsche Zeitung nicht mehr von seinem Distributor. Das schmerzt sehr, denn wir haben jeden Samstag $4.50 hingelatzt, um das Magazin-Heftchen, das mit der Freitagsausgabe kommt, zu lesen. Tipp für Besucher: Ihr könntet uns eine Riesenfreude bereiten, wenn ihr uns ein, zwei, viele SZ-Magazine mitbringt, von wann ist egal, es ist einfach zeitlos gut.
(Michael) Angelika hat mir ja zum Geburtstag eine Digitalkamara geschenkt und damit fotografiere ich jetzt den ganzen Tag die dusseligsten Sachen. Ob beim Einkaufen, zur Arbeit oder Mittagessen -- die Kamera ist überall dabei. Wer sich wundert, wo ich auf dem einen Bild gekonnt mit Stäbchen zu Mittag esse, dem sage ich es frei heraus: In Mountain View gibt es zwar nicht viele gute Restaurants, aber eines, das noch dazu spottbillig ist, suche ich einmal die Woche mit meinem Kollegen Hoang auf: Ein chinesisches Restaurant in der Castro-Street, dessen Namen ich hier nicht nennen kann, schließlich sollen dort nicht Abermillionen von Rundbrieflesern aufkreuzen -- auch ein Superstar braucht seine Privatsphäre! Nur soviel: Es hängen gebratene Enten im Schaufenster. Dort gibt es die beste Nudelsuppe mit Ente auf der ganzen Welt. Leider ist das Foto etwas unscharf, da Hoang beim Fotografieren gelacht hat, der alte Dödel. Ach ja, aber lustig war's!
(Michael) Und nachdem Amerika dem Rest der Welt zumindest im Konsumgüterbereich immer leicht voraus ist, wollen wir euch in Europa mit dem aktuellen Rundbrief-Top-Produkt immer etwas Besonderes vorstellen. Sachen, die ihr noch nicht zu Hause kaufen könnt, die aber vielleicht demnächst rüberschwappen. Dann könnt ihr sagen "Kenn' ich schon, brauch' ich nicht, hab' ich vor einem Jahr schon im Rundbrief gelesen!", wenn euch jemand ein gerade stolz erworbenes Produkt vorstellt. Und damit das klar ist: In Amerikas Waldgebieten oder den Vororten werdet ihr unsere Vorschläge auch nicht finden. Hier geht es nur um die Mega-In-Produkte, die es nur in den Mega-In-Metropolen wie New York oder San Francisco gibt. Mega-in ist hier ja zur Zeit alles Japanische. Man fährt nach Japan in Urlaub -- wir wollen's nächstes Jahr vielleicht mal versuchen. Man geht japanisch essen, wie zum Beispiel in Japantown in San Francisco. Und, topaktuell: Man kauft in japanischen Supermärkten ein, wo selbst eingefleischte Japanfreunde ins Schleudern kommen, weil man nicht mal die Verpackungen der Produkte lesen kann.
(Michael) Mit meiner japanischen Arbeitskollegin Rika fuhr ich mal in der Mittagspause im "Nijia"-Supermarkt vorbei und ließ mir die Waren erklären. Das waren einerseits Sachen, die ich aus Restaurants schon kannte, wie "Edamame" (Sojabohnen als appetitanregende Vorspeise oder auch Knabberzeug, das man kocht, salzt und dann aus der bohnenähnlichen Hülle herauszuzelt), Miso-Suppe (vergorenes Soja mit heißem Wasser aufgegossen und meist mit Seetang und Tofu-Batzen angereichert) und andererseits Produkte, die mir neu waren, wie getrocknete Shrimps, die man wie Kartoffelchips aus einer Tüte isst und die riechen wie Fischfutter für ein Aquarium. Wenn Angelika die isst, wird mir schlecht. Und kalter Kaffee mit Milch und Zucker aus einer Getränkedose, der Name des Produkts: "Boss Sharp". Superlecker! Das heutige Top-Produkt: Die Fertig-Miso-Suppe, die man nur auspacken und mit heißem Wasser übergießen muss. Den Namen des Produkts kann ich euch leider nicht sagen, weil ich kein Japanisch kann. In Abbildung 10 seht ihr aber, wie die Packung aussieht. Es ist wichtig, dieselbe Marke zu kaufen, da, so der Fachmann, die Suppe sonst nicht so gut schmeckt. So, das war's für heute aus unserer kunterbunten Welt in San Francisco. Gehabt's euch wohl, bis zum nächsten Rundbrief!
Angelika und Michael
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