04.12.2000   Deutsch English

  Rundbrief Nummer 26  
San Francisco, den 04.12.2000


Abbildung [1]: Ein Kopf-an-Kopf-Rennen in Florida.

(Angelika) Amerika hat noch immer keinen neuen Präsidenten. In Deutschland beobachtet ihr diesen Wahlkrimi sicherlich mit einem Kopfschütteln und vielleicht auch mit ein wenig Schadenfreude, denn es ist schon faszinierend, dass ein Land, das sich immer damit brüstet, führend in diesem und jenem zu sein, es nicht schafft, Wahlstimmen akkurat auszuzählen. In der deutschen Presse wurde zwar ausführlich über die amerikanische Wahl berichtet -- aber trotzdem möchte ich noch einige Details nachreichen, weil sich so einige klassische amerikanische Phänomene zeigen:

Da ist zunächst einmal das hochkomplizierte und doch schon recht altmodisch anmutende Wahlverfahren. Der amerikanische Präsident wird nämlich nicht direkt vom Volk gewählt, sondern von einem Wahlmännergremium, dem sogenannten "Electoral College". Jeder amerikanische Bundesstaat entsendet Wahlmänner ins Gremium. Mindestens 270 (bei insgesamt 538) Wahlmännerstimmen braucht ein Kandidat, um Präsident zu werden. Nun stehen aber nicht jedem Bundesstaat die gleiche Anzahl von Wahlmännern zu. Je bevölkerungsreicher der Bundesstaat, desto mehr Wahlmänner entsendet dieser Staat. Kalifornien ist zum Beispiel einer der bevölkerungsstärksten Bundesstaaten und entsendet deshalb 54 Wahlmänner ins Gremium, Hawaii hingegen nur 4. Die Wahl am 7. November diente also dazu, die Zusammensetzung der Wahlmännergruppe zu bestimmen. Dabei gilt in der Regel, dass der Kandidat, der in dem jeweiligen Bundesstaat gewinnt ("popular vote" genannt), alle Wahlmännerstimmen ("electoral vote") dieses Staates erhält. Und Gewinnen bedeutet bei diesem Schritt nicht etwa die absolute Mehrheit, selbst ein Vorsprung von einer Handvoll Stimmen reicht, um alle Wahlmännerstimmen einzuheimsen. Deshalb ist Florida zur Zeit das Zünglein an der Waage. Ohne die Wahlmännerstimmen des Staates Floridas können weder Bush noch Gore die absolute Mehrheit im Wahlmännergremium erreichen. Die Wahlmänner sind übrigens in der Regel langjährige, treue Parteimitglieder, um sicherzustellen, dass sie nicht abweichend vom Volkeswillen stimmen. Skurril mutet bei diesem System an, dass ein Kandidat zwar auf ganz Amerika bezogen mehr Stimmen haben kann als sein Mitstreiter, aber trotzdem weniger Wahlmännerstimmen erhält. Dies ist bei dieser Wahl bereits der Fall, da Al Gore die "popular vote" (amerikaweit abgegebene Stimmen) für sich verbuchen konnte. Trotzdem wird wahrscheinlich Bush Präsident werden.

Das Wahlmännergremium soll am 18. Dezember zusammenkommen, um den Präsidenten zu wählen. Die offizielle Amtsübernahme ist dann erst am 20. Januar. Das Wahlmännersystem stammt übrigens aus dem Jahre 1787 und sollte u.a. sicherstellen, dass die Bundesstaaten genügend Mitspracherecht erhalten. Es wurden schon unzählige Vorstöße gewagt, das Wahlmännersystem zu modifizieren, bisher ohne Erfolg. Bleibt nur zu hoffen, dass nach diesem Wahldesaster endlich etwas passieren wird. Einige böse Stimmen meinen schon, dass man gar nicht das Wahlsystem ändern muss, sondern dass es vielleicht schon helfen würde, modernere Zählmaschinen anzuschaffen. In Deutschland wundert ihr euch vielleicht, wie es sein kann, dass nicht jeder Bundesstaat bei einer Präsidentenwahl die gleiche Technik verwendet. Hier kommt eben wieder das Prinzip durch, dass jeder Bundesstaat weitreichende Entscheidungsfreiheit hat. So gibt es eben nicht nur in einigen Bundesstaaten in Amerika die Todesstrafe und in anderen nicht. Nein, man hat auch unterschiedliche Technologie zum Auszählen von Stimmen und unterschiedliche Wahlzettel. Diese können übrigens nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden sein, sondern von Wahlkreis zu Wahlkreis. So kommt es, dass einige Amerikaner Kreuze machen, andere schwarze Striche in ein vorgegebenes Feld und wieder andere stanzen Löcher. Dazu werden die Wahlzettel in eine Vorrichtung eingespannt und man erhält ein stiftähnliches Gebilde und muss mit diesem ein vorgezeichnetes Loch ausstanzen -- neben dem Namen seines Wunschkandidaten. Und diese Wahlmethode hat in Florida zum Chaos geführt. Wo ein Loch gestanzt wird, gibt es kreisrunden Konfetti-Abfall, in Amerika "Chad" genannt.

Abbildung [2]: Rot: Bush. Blau: Gore.

Dummerweise ist dies scheinbar nicht so einfach, denn manchmal hängt dieser Stanzabfall noch wie am seidenen Faden an der Wahlkarte. Die Zählmaschine begreift dann nicht, was los ist und wirft die Wahlkarte als ungültig raus. Deshalb sollte das Handzählen in Florida genauere Ergebnisse geben. Die Frage, die dabei durchs Land ging, war nun: Was zählt als gültige Stimme? So wurden die "Chads" auch noch kategorisiert. Meine beiden Favoriten sind: "pregnant (schwangere) chads", die Lochabfälle also, die sich fast gar nicht von der Karte gelöst haben, und "dimpled (eingedellte) chads", bei denen nur eine Ausbeulung zu sehen ist. Da es leider nun aber in Florida keine einheitlichen Richtlinien für Handzählungen gibt, sah man auf jedem Kanal im Fernsehen Experten über "Chads" streiten - ein perfektes absurdes Theater.

Obwohl am letzten Sonntag (26.11.) in Florida um 17 Uhr Ortszeit das Ergebnis der Auszählungen (einschließlich der so umstrittenen Handzählungen) bekannt gegeben wurde, heißt das noch lange nicht, dass der Sieger der 25 Wahlmännerstimmen in Florida, George Bush, auch der Sieger bleiben wird, denn es sind noch unzählige Klagen vor den verschiedensten amerikanischen Gerichten anhängig.

Entscheidend ist jetzt vor allen Dingen, was der amerikanische "Supreme Court" (so etwas wie das Bundesverfassungsgericht in Deutschland) in den nächsten Tagen beschließen wird. Die Frage ist nämlich, ob der oberste Gerichtshof in Florida befugt war, Handauszählungen in Florida über der im Wahlgesetz festgelegten Frist hinaus zu erlauben. George Bush sagt, die Richter in Florida hätten ihre Befugnis überschritten. Al Gore hingegen meint, dass alles seine Richtigkeit hatte, denn keine Wählerstimme darf unter den Tisch fallen.

Sensationell ist übrigens, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte der USA der Oberste Gerichtshof in Washington in eine Wahl einmischt. Der Amerikaner glaubt nämlich -- wie bereits erwähnt -- fest an die Hoheit der Einzelstaaten und Wahlgesetze sind nun einmal auch bei der Präsidentenwahl bundesstaatliche Angelegenheit, also in diesem Fall die Sache Floridas. Der Supreme Court kann durch eine Entscheidung im Sinne Bushs aber nur dessen Vorsprung erhöhen. Zur Zeit liegt Bush in Florida mit 537 Stimmen vor Gore. Werden die Handzählungen über die Frist hinaus für ungültig erklärt, wächst der Vorsprung auf 930 Stimmen an und der Streit in den Gerichtssälen spielt sich danach wieder in Florida ab. Gore möchte nämlich erreichen, dass in einem County (einen "County" könnte man mit einem deutschen Landkreis vergleichen) namens "Leon" von Hand gezählt wird, da dort die Zählmaschinen einige tausend Stimmzettel nicht berücksichtigt haben. Und da dieser County in der Regel demokratisch wählt, hofft Al Gore, durch eine Handzählung Stimmen zu gewinnen und Bush doch noch zu schlagen.

Das Problem ist nur, dass die Zeit läuft und die Handzählung eigentlich sofort beginnen müsste. Am 12. Dezember müssen nämlich die Wahlmänner definitiv benannt sein, damit diese dann am 18. Dezember ihre offiziellen Stimmen abgeben und den Präsidenten wählen. Und das Handzählen kann dauern. In Florida droht nun schon das Landesparlament, einfach die Wahlmänner eigenhändig zu benennen, wenn immer noch kein richtiges, amtliches Wahlergebnis vorliegt am 12. Dezember. Das Problem ist nur, dass das Landesparlament in Florida eine republikanische Mehrheit (also eine Mehrheit der Partei, der George Bush auch angehört) hat und somit republikanisch gesinnte Wahlmänner bestimmen würde. Angeblich soll das Ganze legal sein, aber das halte ich nun doch für sehr anrüchig, da ja dann die Stimmen der Bevölkerung in Florida überhaupt nicht berücksichtigt würden.

Apropos Medien: Die haben sich in der Wahlnacht sehr amerikanisch gebärdet, scheuten sie sich doch nicht (auf der Jagd nach höheren Einschaltquoten) Meldungen zu verbreiten, die nur auf einer wagen Prognose basierten -- und auch glatt falsch waren. So ging Florida erst an Al Gore, dann an Bush. Erst danach verbreitete man, dass das Ergebnis zu knapp war ("too close to call") und erst alle Stimmen ausgezählt werden müssten. Solche Falschmeldungen können übrigens durchaus das Wahlergebnis beeinflussen, da durch die verschiedenen Zeitzonen zum Beispiel die Wahllokale an der Westküste noch geöffnet sind, wenn in anderen Bundesstaaten schon gezählt wird.

Das knappe Wahlergebnis zeigt übrigens auch sehr deutlich die Lage der Nation. Keiner der Kandidaten hat die Amerikaner so richtig vom Hocker gerissen und das Land wirkt wie eine gespaltene Nation. Die Bundesstaaten an der Küste sowie an den großen Seen (traditionelle Hochburg der Gewerkschaften) gingen an den liberaleren Gore, der sich für bessere Sozialprogramme, Umweltschutz, Verbesserung der Gesundheitsfürsorge, strengere Waffengesetze, den Abbau der Staatsschulden und Umweltschutz sowie mehr staatliche Kontrolle (ein sehr heikles Thema in Amerika) stark macht, während die Staaten in der Mitte an den konservativen Bush fielen, der Steuersenkungen (vor allen Dingen für die Finanzkräftigen), das Recht auf Waffenbesitz, Stärkung des Militärs, Umweltschutz auf freiwilliger Basis und so wenig staatliche Regelungen wie möglich propagiert. Ich frage mich ja, wie überhaupt jemand so geistig umnachtet sein kann und seine Stimme für Bush abgibt, aber ich scheine immer wieder zu vergessen, dass San Francisco nicht mit dem Rest der USA zu vergleichen ist. Nicht nur, dass die Wahlbeteiligung in San Francisco für amerikanische Verhältnisse stets enorm ist (um die 80% bei dieser Wahl, ca. 50% war die Wahlbeteiligung auf ganz Amerika bezogen), sondern es wird stets der liberalere Kandidat gewählt, wobei vielen in San Francisco Al Gore viel zu rückständig ist und die meisten lieber Ralph Nader von den amerikanischen Grünen gewählt hätten. Allgemein finde ich interessant, dass alle offen darüber reden, wen sie gewählt haben, das ist absolut kein Tabu.

Vielleicht interessiert euch auch noch, wie man sich in Amerika als Wähler registrieren lässt, da es ja keine Meldepflicht gibt. In San Francisco stößt man z.B. auf öffentlichen Plätzen oder in der U-Bahn öfter auf Leute, die mit Listen herumrennen, in die man sich eintragen kann, um sich als Wähler registrieren zu lassen. Oder Behörden wie die Führerscheinstelle schicken Formulare zum Registrieren mit. Wahlberechtigt sind nur amerikanische Staatsbürger, die mindestens 18 Jahre alt sind. Wer nur eine Greencard oder ein Visum besitzt, darf nicht wählen. In den meisten amerikanischen Bundesstaaten dürfen auch verurteilte Verbrecher nicht wählen, wobei dies in einigen wenigen Bundesstaaten erschreckender Weise sogar lebenslang gilt.

Nun ja, die amerikanischen Gerichte müssen entscheiden. Das ist auch wieder so ein amerikanisches Phänomen: Klagen, was das Zeug hält. Faszinierend finde ich auch, dass nicht die große Staatskrise wegen dieses Wahldesasters ausgebrochen ist. Es werden zwar vermehrt Stimmen laut, dass es jetzt auch mal wieder gut ist, aber keiner kritisiert Amerika per se. Noch im größten Chaos wird immer wieder betont, wie gut und demokratisch doch alles zugeht und wie dankbar man ist, "in dem großartigsten Land" der Welt zu leben. Das finde ich schon sehr befremdlich. Dass das Ausland sich heftig über Amerika lustig macht, wird natürlich nicht erwähnt. Wie dem auch sei, es bleibt spannend...

(Michael) Endlich, endlich komme ich dran! Zur heutigen Rundbrief-Quizfrage: Für welchen Kandidaten hätte Angelika gestimmt, hätte sie wählen dürfen? Haha, nur ein Scherz. Zur Wahl wollte ich nur noch nachtragen, dass Abbildung 2 deutlich macht, wie sich Republikaner und Demokraten das Land aufteilen: Die Mitte für Bush und die Küstengebiete für Gore. Und obwohl es auf den ersten Blick so aussieht, als hätte Bush flächenmäßig haushoch gewonnen, lief es letztlich fast auf ein Unentschieden hinaus, da die Bundesstaaten in der Mitte der USA viel dünner besiedelt sind und demnach weniger Wahlmänner stellen.

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