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Rundbrief
  Rundbrief Nummer 139  
San Francisco, den 26.07.2021
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Rundbrief


Abbildung [1]: Das erste Mittagessen in einem Restaurant nach der Pandemie.

Angelika Im Mai/Juni 2021 erwachte San Francisco aus seinem Corona-Dornröschenschlaf. Die hohe Impfrate in der Stadt und Umgebung hatte die Inzidenzwerte auf einstellige Zahlen je 100.000 Einwohner herunter gedrückt. Über Wochen hinweg lagen die Traumwerte bei unter 2! So etwas wie Euphorie machte sich in der Stadt breit. Sollten wir es geschafft haben? Als dann am 15. Juni in San Francisco (und auch Kalifornien) fast alle Einschränkungen wegfielen, gab es kein Halten mehr. Wir sahen wieder gut besuchte Restaurants mit geöffnetem Innen- und Außenbereich, und vermehrt Menschen ohne Maske, selbst im Supermarkt. Nur nicht Geimpfte waren noch verpflichtet, sich zu maskieren.

Abbildung [2]: Dieser Tattoo-Laden tätowiert Geimpfte auch ohne Maske.

Touristen gehörten auf einmal nicht mehr zur aussterbenden Art, und auch Downtown San Francisco sah nicht mehr ganz so trostlos aus und fing an, das Geisterstadt-Image zu verlieren. Ich traf mich endlich wieder mit einzelnen Freunden in Restaurants, die ich seit über einem Jahr nicht mehr persönlich gesehen hatte und Michael spielte einen Abend in seiner Schafkopfrunde. Auch Michaels geliebtes Fußballspielen findet wieder regelmäßig statt. Freudig bolzt er jetzt jeden Donnerstag und Sonntag. Und wir kehrten das erste Mal nach einer Wanderung in einem Café ein, ein Ritual, das vor Corona zu jeder Wanderung gehörte. Es ging ein kollektiver Seufzer der Erleichterung durch San Francisco und Umgebung.

Abbildung [3]: Dieser Modeladen möchte ab sofort keine Jogginghosen mehr sehen.

Ich muss gestehen, dass es zunächst etwas komisch war, seine Maske im öffentlichen Raum abzunehmen, vor allen Dingen, weil ich es von meiner Arbeit in der Schule gewöhnt bin, sie den ganzen Tag zu tragen, Impfung hin oder her. Auch wusste nicht jeder, mich eingeschlossen, wie das Maskenprotokoll genau aussah. Laden- oder Restaurantbesitzer wiesen Geimpfte mit Schildern darauf hin, dass sie keine Maske zu tragen brauchten. Allerdings kontrolliert hier keiner den Impfstatus an der Eingangstür. Mir wäre ja das Prinzip "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" lieber, aber im freiheitsliebenden Amerika, wo viele solcher Maßnahmen gleich als staatliche Bevormundung angesehen werden, hofft man auf die Ehrlichkeit der Kunden. Da ich prinzipiell skeptisch bin, dass sich Menschen an etwas halten, wenn nur an ihre Vernunft appelliert wird, setze ich grundsätzlich in Innenräumen wie zum Beispiel in Geschäften, wo ich den Impfstatus meiner Mitmenschen nicht kenne, noch meine Maske auf. Es sieht so aus, als hätte ich damit einen Trend gestartet, denn, durch die Deltavariante bedingt, steigen auch in San Francisco die Zahlen, und viele tragen schon wieder ihre Maske in den Geschäften, vor allen Dingen nachdem die San-Francisco-Gesundheitsbehörde auch Geimpften dazu riet.

Abbildung [4]: In den Sportausstatter REI dürfen geimpfte ohne Maske rein.

Verpflichtend - wie mittlerweile wieder in Los Angeles - ist es allerdings noch nicht. Obwohl in San Francisco fast 80% der impfberechtigten Bevölkerung bereits eine Dosis erhalten hat und fast 70% vollständig geimpft sind, breitet sich Delta aus, hauptsächlich bei den Ungeimpften. Mittlerweile liegen die Infektionszahlen im zweistelligen Bereich nämlich bei 14 Infizierten auf 100.000 Einwohner. Überall stagniert die Impfbereitschaft, selbst in Gegenden, wo die Impfrate längst noch nicht so hoch ist wie in San Francisco. In Kalifornien wird alles versucht, Menschen umzustimmen und zum Impfen zu motivieren. Das geht von Bargeldzahlungen (50 Dollar), Freikarten zu Freizeitparks über spezielle Lotterieziehungen für Geimpfte. Die Verantwortlichen scheuen weder Mühe noch Kosten.

Da nicht jeder auf Belohnungen reagiert, gibt es auch Vorstöße, die Daumenschrauben anzuziehen. Viele kalifornische Universitäten (u.a. Stanford University, San Francisco State University, UC Berkeley) verpflichten ihre Studenten zur Covid-Impfung. London Breed, unsere Bürgermeisterin, verkündete, dass alle städtischen Bediensteten der Stadt San Francisco, schlappe 35.000 Angestellte, sich impfen lassen müssen. Verweigerer setzen ihren Job aufs Spiel. Auch in unserer Schule gilt für die Mitarbeiter Impfpflicht. Ich begrüsse das sehr, denn ich habe im letzten Schuljahr oft mit der Angst leben müssen, an Covid zu erkranken oder dass sich das Virus in der Schule verbreitet und die Kinder infiziert. Wir schafften es übrigens, ohne einen Covidfall durchs Schuljahr zu kommen und unsere Schule war seit Herbst 2020 durchgehend auf. Meine Schüler sind übrigens ganz heiß auf die Impfung und bedauern sehr, dass der Impfstoff für ihre Altersgruppe noch nicht zugelassen ist. Da könnte sich so mancher Impfmuffel ein Beispiel drannehmen.

Zwölf Millionen für ein Haus?

Abbildung [5]: Dieses Haus ist für knapp 12 Millionen Dollar zu verkaufen.

Michael In der Tagesschau hören wir deutsche Politiker regelmäßig herumstöhnen, dass Mieten und Hauspreise in Berlin und München viel zu hoch seien. Lachhaft! Im Vergleich zu den in San Francisco üblichen Immobilienpreisen ist ein Reihenhaus in München immer noch ein Schnäppchen. So absurd überhitzt wie vor zwei Jahren ist der Häusermarkt hier zwar inzwischen nicht mehr, denn die immer noch andauernde Massenflucht aus San Francisco und der Bay Area, ausgelöst durch auf Home-Office umstellende Tech-Arbeiter und desillusionierte Kaffeeaufschäumer, hat die natürliche Preisbremse aktiviert.

Abbildung [6]: Ein Dot-Com-Millionär, der 2020 verstarb, hatte das Haus 2006 gekauft.

Als Nebeneffekt stehen jetzt auf einmal auch außergewöhnliche Häuser zum Verkauf, und nervös werdende Makler zeigen die Liegenschaften teilweise monatelang herum, bis sich endlich ein Milliardär erbarmt, dem gerade zehn Millionen Dollar ein Loch in die Tasche brennen. So kam neulich das verwinkelte, burgähnliche, und leicht hässliche Haus an der Ecke 21st und Sanchez auf den Markt. Es hat einmal einem früheren Bürgermeister von San Francisco gehört, der es gerüchtehalber für seine Mätresse erworben hatte, was dadurch belegt ist, dass der Riesenkasten zwar mit weiträumigen Speisesälen und Badezimmern aufwartet, aber ursprünglich weder über eine Küche noch eine Garage verfügte.

Ein Internetmillionär namens Frederick Roeber hatte das Haus im Jahr 2008 für schlappe 4,3 Millionen Dollar erworben. Der exzentrische Computernerd, der bei Netscape und Google gearbeitet hatte und schließlich mit Mitte 40 in Frührente ging, erlangte im Jahr 2016 internetweiten Berüchtigtenstatus, weil er aus Frust über den Wahlsieg Donald Trumps eine Hakenkreuzfahne gehisst hatte, was eine Nachbarin mit jüdischen Wurzeln erzürnt hatte. Typische Gschichterln aus unserem Stadtteil halt, der Rundbrief hat damals natürlich darüber berichtet (Rundbrief 12/2016). Überraschenderweise verstarb der Internetpionier nun jedoch letztes Jahr im Juni 2020 unter mysteriösen Umständen im Alter von nur 52 Jahren, und das verrückte Haus steht jetzt gerade zum Verkauf. Schlappe 11,9 Millionen Dollar wollen die Angehörigen dafür sehen, für ein Haus ohne Garage ist das schon etwas gewagt. Aber schau'n wir mal, vielleicht erbarmt sich ja ein Milliardär ohne Auto, der sich ausschließlich vom Bringdienst ernährt?

Abbildung [7]: Dieses Haus auf der 21sten Straße in Noe Valley hat Facebooks Zuckerberg 2014 für 10 Millionen Dollar gekauft.

Weil wir gerade beim Thema Immobilien-Klatsch sind: Ein ganzes Stück weiter unten auf der 21sten Straße, an der Ecke zur Fair-Oaks-Street, steht eine weitere Burg, das sogenannte "Fort Zuckerberg" (Rundbrief 12/2014). Den Spitznamen erhielt das Gebäude, als Facebook-Fritze Mark Zuckerberg es 2014 zum damals völlig irren Preis von 10 Millionen Dollar (4 Millionen über dem Marktpreis) erwarb, und die Nachbarn ein Jahr lang mit Baustellenlärm einschließlich einem Tag und Nacht patrouillierenden Sicherheitsdienst terrorisierte. Die in dem Lärm-Artikel zitierte Innenausstattung einschließlich "Wine Room" und "Wet Bar" ist übrigens lesenswert.

Abbildung [8]: Und weil er keinen Streit mit Nachbarn will, hat er auch noch die Häuser links ...

Abbildung [9]: ... und rechts davon gekauft und ein Jahr lang renovieren lassen.

Mittlerweile scheint der Zuckerberg-Markl der Streitereien überdrüssig geworden zu sein und hat einfach noch die beiden links und rechts anliegenden Häuser (angeblich zu ähnlichen Mondpreisen) gekauft, die nun seit ebenfalls mehr als einem Jahr in Plastik gehüllt renoviert werden. Verfolgt man die Diskussionen darüber auf dem Nachbarschaftsforum Nextdoor, geben sich die anderen Anlieger auf der 21. Straße meist erfreut über die an Zuckerbergs Kaufrausch gekoppelte rasante Wertentwicklung ihrer eigenen Häuser. Denn ist der Baustellenlärm einmal versiegt, sind kaum noch Belästigungen zu erwarten, da Zuckerberg praktisch nie da ist, weil er eh unten in Palo Alto in der Nähe seiner Firma wohnt, wo er sich gleich vier direkt nebeneinander stehende Häuser gekauft hat.

Beim Erwerb von alten Häusern in San Francisco gilt es übrigens aufzupassen wie ein Haftlmacher, denn in der Stadtverwaltung herrscht ein übler Baugenehmigungssumpf, den nur die Mächtigsten auszuhebeln verstehen, während sich Otto Normalverbraucher die Haare rauft, weil die Behörde ihm nicht erlaubt, sein Badezimmer zu renovieren oder die Terasse neu zu pflastern. Wenn die Bürokraten sich stur stellen, sitzt ein frischgebackener Immobilieneigentümer unter Umständen auf einer Ruine, die unter Denkmalschutz steht, und deren mühselige Renovierung Unsummen verschlingt.

Derlei Probleme hat der neue Besitzer des Grundstücks an der Ecke 21st St und Sanchez St scheinbar elegant aus dem Weg geräumt, denn laut Bauregister erwarb er das herrschaftliche Gebäude dort für 10 Millionen Dollar, und machte gleich kurzen Prozess, denn er ließ es kurzerhand binnen weniger Tage bis auf die Grundmauern abreißen (Abbildungen 10 und 11).

Abbildung [10]: Nur Tage vorher stand hier noch ein herrschaftliches Haus (Google Streetview).

Abbildung [11]: Der neue Besitzer hat 10 Millionen gezahlt und das Haus abreißen lassen.

Angeblich soll das Haus dort schon relativ alt und innen marode gewesen sein, obwohl es von außen noch tiptop ausgesehen hatte. Die Bulldozer haben ganze Arbeit geleistet, und Platz für einen extravaganten Neubau ist nun hinreichend vorhanden. Das Grundstück ist riesig, und die Genehmigung für eine mehrstöckige Monsterburg schon im Kasten, mal sehen was da hinkommt, euer Immobilienklatschreporter wird weiterhin zeitnah über neue Entwicklungen in unserem Nobel-Valley berichten!

Parklets als Restaurant-Retter

Abbildung [12]: Restaurants in San Francisco dürfen Gäste nun draußen in sogenannten "Parklets" bewirten.

Angelika In der Pandemie sind die Restaurants in San Francisco durch die Hölle gegangen und nur ganz langsam fassen die, die ihre Türen noch offen haben, wieder Fuß. Viele beliebte und alt eingesessene Restaurants mussten schließen. Die Liste ist sehr lang. Nun ist es schon unter normalen Bedingungen nicht einfach in der kulinarischen Hochburg San Francisco, ein Restaurant zu führen, das Geld abwirft. Die Konkurrenz in San Francisco ist brutal, Mieten und Personalkosten extrem hoch, gutes Personal schwer zu finden und die Margen sehr klein, d.h., dass das Restaurant letztendlich immer alle Tische besetzen muss, um zu überleben.

Abbildung [13]: Eines Tages fingen Bauarbeiter an, vor unserer Eingangstür ein Parklet zu errichten.

Über Monate konnten Restaurants in San Francisco nur Takeout (neudeutsch: "To Go") anbieten. Dann duften sie Mitte Juni 2020 unter strengen Hygieneauflagen Kunden draußen bewirten. Nun hatte aber nicht jedes Restaurant Tische draußen stehen. Ganz im Gegenteil, in San Francisco gibt es zwar viele Sonnentage, aber abends ist es in der Regel zu kalt, um draußen zu sitzen. Doch in der Not wird man erfinderisch und nimmt so manches in Kauf. So erlaubte die Stadt, dass Restaurants Parkbuchten und Gehsteige vor ihren Restaurants mit wenig Bürokratie umfunktionieren durften. Wie Michael bereits oft erwähnt hat, wiehert auch in San Francisco der Amtschimmel, wenn es um Baugenehmigungen und dergleichen geht. Vor einigen Jahren noch hätte der Vorschlag, Parkplätze und Fußwege zu Restaurantzonen zu machen, Anhörungen, Endlosdiskussionen der Parkplatzbewürworter und -gegner ausgelöst, und ein jahrelanges Ringen ohne Ergebnis mit sich gebracht.

Abbildung [14]: Ein kuscheliger Zweiertisch im Parklet für ein romantisches Dinner.

Abbildung [15]: Auch Tische direkt an stark befahrenen Straßen werden gut angenommen.

So aber fingen die Restaurantbesitzer an zu hämmern, und werkelten Tag und Nacht, um die sogenannten Parklets kurzfristig aus dem Boden zu stampfen. Nun haben wir ein Sammelsurium von diesen neu geschaffenen Räumen. Einige sind eher rustikal und einfach, andere schon mit Plexiglassaußenwänden und Heizstrahlern für die kältere Tageszeit versehen. Das Restaurant neben unserem Mietshaus, das in der Pandemie den Besitzer gewechselt und neu eröffnet hatte, nahm sich wohl die Straßencafes in Paris zum Vorbild, und das neue Parklet vor unserer Haustür kommt gut an. Die Leute lieben es, dort zu speisen, denn jeden Abend ist jeder Tisch besetzt und wenn wir uns auf unsere tägliche Spaziergänge aufmachen, laufen wir sozusagen durch die schlemmenden Gäste hindurch.

Abbildung [16]: Im Parklet vor unserem Mietshaus ist an warmen Tagen jeder Tisch besetzt.

Da viele Restaurantbesitzer sehr viel Geld in diese Außenbereiche gesteckt haben und sie, wie gesagt, eh schon sehr gebeutelt sind, hat der Stadtrat jetzt beschlossen, dass die Parklets bleiben dürfen. Zunächst waren die Genehmigungen dafür ja befristet. Ich finde es super, genau so wie die verkehrsberuhigten "Slow Streets" (Rundbrief 09/2020), die in der Pandemie geschaffen wurden. Auch hier wollen viele Bürger, dass diese bleiben und haben dafür schon Petitionen ins Rollen gebracht.

Kalifornischer Recall

Abbildung [17]: Newsom-Herausforderer John Cox posiert mit einem Grizzly-Bären.

Angelika Dass in Kalifornien ein amtierender Gouverneur noch vor Ablauf seiner Amtszeit abberufen wird, ist durchaus nicht so absurd wie man glauben könnte: Schon einmal haben wir im Jahr 2003 die Abberufung von Gouverneur Gray Davis erlebt. Ein gewisser Arnie Schwarzenegger hievte Davis damals durch erzwungene Neuwahlen aus dem Amt, damals übrigens das erste Mal in der Geschichte Kaliforniens.

Obwohl diese Recallverfahren in Kalifornien gang und gäbe und die Hürden niedrig sind (Rundbrief 08/2003), kommt es in der Regel aber nicht zur endgültigen Abstimmung, weil die nötigen Unterschriften fehlen oder nicht verifiziert werden können. Seit den 60ern ist es praktisch Standard, dass die frustrierten Wähler dem amtierenden Gouverneuren mit einem Recall drohen, aber nur Davis musste bisher daran glauben.

Nun ist gerade Gavin Newsom dran, unser derzeitiger Gouverneur. Fünf Recall-Versuche gab es schon, aber beim sechsten Mal gelang es den Newsom-Gegnern, die nötigen gültigen Unterschriften zusammen zu kriegen. Am 14. September 2021 dürfen nun alle Kalifornier darüber abstimmen, ob Newsom im Amt bleiben darf. Ich halte das Ganze ja für rausgeschmissenes Geld. Laut New York Times kostet die Sonderwahl den Steuerzahler 276 Millionen Dollar. In diesen Zeiten brauchen wir wirklich keinen Gouverneur, den Sonderwahlen von der Arbeit ablenken. Corona ist immer noch eine Bedrohung, ganz zu schweigen von den Waldbränden, die schon wieder überall in Kalifornien lichterloh wüten. Auch kämpft Kalifornien gerade wieder mit einer Trockenperiode, und wir müssen Wasser sparen. Sonderwahlen locken traditionell nur sehr wenige Wähler an die Urnen, und mobilisieren nur die, die den amtierenden Politiker loswerden wollen.

Newsom ist übrigens seit Januar 2019 im Amt. Er gehört der demokratischen Partei an und machte sich als Bürgermeister von San Francisco einen Namen, als er gleichgeschlechtliche Paare in einer Spontanaktion im Rathaus heiraten ließ, obwohl Kalifornien dies noch nicht zugelassen hatte (Rundbrief 03/2004). Gouverneure werden in Kalifornien für vier Jahre gewählt und können maximal zwei Amtsperioden regieren, also für acht Jahre.

Jeder weiß, dass Newsom mit Washington liebäugelt. Manche munkeln, dass er dem Posten des Präsidenten nicht abgeneigt wäre. Nun ist es sicherlich nicht ganz einfach, Kalifornien zu regieren. Der Bundesstaat ist nicht nur groß, sondern auch bevölkerungsreich und eine wirtschaftliche Supermacht, aber auch von Naturkastrophen wie Bränden, Erdbeben, Dürre und Wasserknappheit gebeutelt. Newsom hatte sich seine Amtszeit sicher auch etwas einfacher vorgestellt. Es ging für ihn bis jetzt hauptsächlich um Krisenmanagement.

Abbildung [18]: Der French-Laundry-Skandal: Governeur Newsom wurde dort während des Lockdown bei einem Fundraiser erwischt.

Vor allem wegen seiner Corona-Politik ist er bei seinen politischen Gegnern in die Kritik geraten. Einmal haben Kaliforniens öffentliche Schulen auch nach anderthalb Jahren der Schließung immer noch nicht richtig wieder aufgemacht. Und die teilweise drastischen Lockdowns fanden nicht jedermanns Zustimmung. Das Fass zum Überlaufen aber brachte aber der sogenannte French-Laundry-Skandal. Das French Laundry ist ein weltberühmtes Nobelrestaurant im Weingebiet Napa Valley, in dem Starkoch Thomas Keller kocht. Am 6. November 2020 feierte Newsom dort den Geburtstag eines Freundes, seines Zeichens ein politischer Lobbyist aus Sacramento, und Fotos enthüllten, dass Newsom keine Maske trug und sich die Geburtstagsgesellschaft auch in den Innenräumen des Restaurants aufhielt, was eigentlich nicht erlaubt war -- nach Newsoms eigenen Coronaauflagen. Das verärgerte viele Wähler. Newsom kämpft eh mit der Reputation des arroganten, reichen Sonnyboys, und der Vorfall schien dies zu unterstreichen.

Abbildung [19]: Die Wahlwerbespots mit dem Bären könnten aus einem Hollywood-Film stammen.

Über 70 Kandidaten haben angekündigt, gegen Newsom antreten zu wollen. Die meisten sind aus dem republikanischen Lager. Dazu gehören der ehemalige Bürgermeister von San Diego, Kevin Faulconer, aber auch der Geschäftsmann John Cox aus San Diego. Und auch Caitlin Jenner, die früher Bruce Jenner hieß und mit Kris Kardashian verheiratet war, und durch die Fernsehserie "Keeping Up with the Kardashians" und dem Gewinnen von olympischen Goldmedaillen berühmt wurde. Besonders John Cox sticht heraus, denn er betreibt seinen Wahlkampf mit einem echten Bären. Sein Motto ist: "The Beauty and the Beast". Beauty bezieht sich auf Newsom, ist aber hier eher abfällig als "Schönling" gemeint. Und er sieht sich selber als das Biest an, das Newsom schlagen kann. Die Fernseh-Wahlspots mit den Bären sind so absurd, dass ich immer denke wir befinden uns im falschen Film. Lustigerweise war Newsom in erster Ehe mit Kimberly Guilfoyle verheiratet, die republikanisches Parteimitglied ist und jetzt mit Donald Turmp Junior zusammen ist. Geschichten wie aus einem Hollywoodfilm.

Teurer Kaffee und Omas Filter

Abbildung [20]: Von Hand gießen wir das heiße Wasser durch Omas Kaffeefilter

Michael Wegen Corona sind wir ja ein ganzes Jahr lang kein einziges Mal zum Essen in ein Restaurant ausgegangen, aber ein Luxus, den wir uns zuhause gegönnt haben, war guter Kaffee. Nach meinen Recherchen stehen in deutschen Haushalten ja seit mittlerweile mindestens 20 Jahren standardmäßig Kaffee-Vollautomaten für mindestens tausend Euro herum, wer keinen hat, ist dort als armer Wicht verschrien. Anders hier in Amerika: Der Trend geht zurück in die 60er-Jahre, und zu Omas Kaffeemühle und einem Filteraufsatz aus Porzellan, trendig "V60" genannt.

Abbildung [21]: Der Ferrari unter den Kaffeemühlen.

Zum Mahlen gerösteter ganzer Bohnen haben wir uns das Modell "Virtuoso+" der zwar italienisch klingenden aber dennoch in Amerika ansässigen Kaffeemühlenfirma "Baratza" gekauft, die den Kaffee einstellbar immer gleich fein mahlt, und nicht etwa umso feiner, je länger man auf den Knopf drückt, wie das bei Billigprodukten üblich ist. Zuverlässig reproduzierbar muss die Kaffeeproduktion sein, sonst gleicht sie einem Lotteriespiel! Aus der Firma wurde mir übrigens berichtet, dass ein Angestellter in der Kaffeeküche dabei beobachtet wurde, wie er 10 Minuten lang mit einer Handkaffeemühle wie aus dem Räuber Hotzenplotz seinen Pausenkaffee gemahlen hat. Bestimmt hat er danach ganz besonders elegante Software geschrieben.

Abbildung [22]: Ein Kaffee-Snob aus England erklärt, wie man Omas Filteraufsatz richtig benutzt.

Wie man nun das im Kessel auf dem Herd erhitzte Wasser in den Filter mit dem gemahlenen Kaffee gießt, ist keineswegs trivial. In einem Youtube-Video erklärt der britische Kaffeeexperte James Hoffmann, dass man für zwei Tassen zuerst 25g Pulver in den Filter macht, dann 100g Wasser aufgießt, dann unter stetigem Schwenken des Filteraufsatzes 20-40 Sekunden wartet, bis das Pulver aufschießt, und schließlich unter weiterem Schwenken die restlichen 350g Wasser draufplatscht. Ihr habt richtig gelesen, Kaffee-Snobs stellen die Kanne mit dem Filteraufsatz auf eine digitale Waage und messen so genau die Wassermenge ab.

Abbildung [23]: Kaffee-Bohnen, von denen 340g schlappe 16 Dollar kosten.

Zu den Bohnen: Jahrzehntelang haben wir importierten Dallmayr Prodomo getrunken, weil der schön sanft mit unserer beider Mägelchen umging und trotzdem gut schmeckte. Dunklere Röstungen, in Amerika unter der Bezeichnung "French Roast" vertrieben, vertragen wir schon lange nicht mehr, aber die sind in Amerika mittlerweile gar nicht mehr so in. Sie waren es wohl einige Zeit lang, kurz nachdem die Firma Starbucks in den 1990er-Jahren in einem erstaunlichen Siegeszug Amerika mit schmackhaftem Kaffee bekanntmachte. Er löste in einer sanften Revolution das bis dato übliche Spülwasser ab, das durch Brühen eines Teelöffels Pulver aus der "Folgers"-Dreikilodose pro Kanne entstand und durch mehrstündiges Verharren auf einer Wärmeplatte eine schön malzige Konsistenz annahm. Heute trinkt der Kaffee-Snob eher milde, nur ganz sanft geröstete Sorten, erkennbar an helleren Bohnen, die aber trotzdem alle Geschmacksnerven torpedieren.

Empfehlungen von Arbeitskollegen folgend, habe ich schon Kaffee online bei Edelröstern wie Little Owl Coffee aus Denver oder auch bei Verve Coffee bestellt, einer Hipsterfirma aus San Francisco. Das Dumme am Luxuskaffee ist nur, dass man sich (wie auch beim Wein übrigens) schnell an bessere Qualität gewöhnt und auf einmal schmeckt ganz passabler Kaffee wie die letzte Plörre an der Fernfahrertanke. Aber man gönnt sich ja sonst nichts.

Topp-Produkt Mac Mini

Abbildung [24]: Michaels unter den Tisch genagelter Mac Mini.

Michael Nachdem sich ein in der Region "Frankfurt und Umland" ansässiger Stammleser (Name ist der Redaktion bekannt) beschwert hat, dass ich in der letzten Ausgabe des Rundbriefs kein "Topp-Produkt" vorgestellt habe, hole ich dies hiermit schleunigst nach. Letztens habe ich nämlich die letzten beiden PC-Tower der Wohnung entsorgt, und auf Mac Minis umgestellt, die praktisch keinen Platz mehr brauchen, weil man sie unter die Tischplatte drapieren kann, während Tastatur und Monitor auf dem Schreibtisch stehen.

Abbildung [25]: Mal schnell von Hand mehr Speicher eingebaut.

Da mir der aufrüstbare Speicher beim Neukauf zu teuer war, kaufte ich billige 32GB-RAM-Riegel auf Amazon und baute sie eigenhändig ein. Ein Höllenspaß, bei einem neugekauften Rechner die Garantie verpuffen zu sehen! Auch zusätzlicher Plattenplatz war mir zu teuer, also kaufte ich billige SSDs, stöpselte sie ein und befestigte sie mit einem Draht und zwei Schrauben unter der Schreibtischplatte. In Deutschland hieße so etwas "Pfusch", aber hier in Amerika ist das ganz normal: whatever works, wie der Amerikaner sagt! Übrigens hat der Mac Mini zwar einen eingebauten Lüfter, der ist aber absolut geräuschlos, auch wenn der kleine Tausendsassa beim Video-Rendern alle Register zieht. Im Büro vergisst man total, dass ein Computer läuft und kommt sich vor wie im Kloster. Topp-Produkt!

Wie ich Youtube-Videos mache

Michael Natürlich kann Otto Normalverbraucher mit der Handy-Kamera Videos drehen, und sie dann auf Youtube hochladen, aber wer sich heutzutage auf der Plattform umschaut, dem fallen meist professionell wirkende Produktionen auf, die Fernsehdokus in nichts nachstehen. Video-Blogger sprechen nicht mehr in simple Webcams hinein, sondern richten Spiegelreflex-Kameras mit hochwertigen Linsen im Video-Modus auf sich selbst. Der Ton kommt nicht mehr dünn aus dem Headset-Mikro, sondern einem ziemlich teuren Studio-Mikrofon, dessen Ausgabe ein digitalisierender Vorverstärker direkt in einen angeschlossenen Computer eingespeist.

Abbildung [26]: Ein kompliziertes Brezelvideo in Final Cut Pro.

Bild und Ton liegen also getrennt vor, und euer Hauptdarsteller braucht mangels professioneller Fernsehausbildung oft mehrere Anläufe, bis ein Satz flüssig ohne allzu viele "äh"s im Kasten ist, also lohnt sich die Anschaffung einer Schneidesoftware. Hierzu legte ich mir das sauteure und saukomplizierte Apple-Programm "Final Cut Pro" zu, natürlich, äh, vergünstigt direkt aus dem Fabrikverkauf. Das Programm ist schwer ausgefuchst, aber gleichzeitig so umständlich zu bedienen, dass kein normaler Mensch, den man davorsetzt, auch nur ein 10-Sekunden-Video damit anfertigen könnte. Zum Glück stehen auf Youtube, ohne Schmarrn, tausende von Videos darüber, wie man das Höllenprogramm bedient.

Abbildung [27]: Ein erfolgreiches Video mit 3000 Views.

Dabei ist es erstaunlich, und im Voraus kaum abzuschätzen, wie gut selbstgemachte Videos auf Youtube ankommen. Die Präsentation meiner Backkünste dümpelt trotz aufwändigster Produktion leider noch immer im zweistelligen Bereich herum, wie zum Beispiel mein Brezelvideo oder das Video zum Anfertigen eines Sauerteigbrots.

Viel erfolgreicher bin ich auf Youtube mit meinem Autobastlerfilm, in dem ich die Mittelkonsole unseres Honda Fit auseinander schraube, um Angelikas dort hineingeschlüpften Ohrring wieder herauszufieseln: Interessierte Autoschrauber haben es schon dreitausendmal abgerufen! (Abbildung 27).

Abbildung [28]: Klappe, die Erste!

Ich habe im Rahmen meines Schnellkurses zum selbsternannten Videofritzen übrigens auch gelernt, warum bei Filmproduktionen am Anfang jeder Szene immer so ein Assistent mit einer Schiefertafel ins Bild kommt, lautstark einen abgespreizten Balken draufschnackeln lässt und "Szene die Erste!" ruft. Bild und Ton eines Films werden nämlich meist getrennt aufgenommen und hinterher zusammengeflickt. Bei meinen Produktionen nehme ich oft das Bild der Handy-Kamera oder einer Spiegelreflex auf, deren Mikros dürren Sound produzieren. Gleichzeitig nimmt ein Studio-Mikrofon den guten Ton auf und der Laptop schneidet diese Aufnahme mit.

Anschließend muss dann ein Schneidemensch den Film so zusammenflicken, dass der Schauspieler genau zu dem Zeitpunkt die Lippen schürzt, an dem auf der guten Tonspur "o" zu hören ist und keine Verschiebung auftritt, wie bei einer schlechten Raubkopie. Das ist eine unglaublich nervige Fitzelei, die man nie ganz genau hinbekommt, aber genau hier kommt die Tafel zum Einsatz: Am Anfang der Filmszene klappt der Balken auf die Tafel, und auf der Tonspur hört man das zugehörige Schnackelgeräusch, in der Schneidesoftware auch grafisch als Spitze dargestellt - und zack!, kann man beide Spuren so verschieben, dass die Tonspitze mit dem Bild des zuschnappenden Balkens übereinstimmt. Alles Folgende stimmt dann ebenso wie bei einer oscarreifen Hollywood-Produktion. Ich hab mir natürlich auch sofort auf Amazon so eine Schnackeltafel gekauft, kostete ja nur 10 Dollar. Lustigerweise fand ich erst viel später heraus, dass die Schneidesoftware "Final Cut Pro" einen Video-Track mit schlechtem Audio automatisch mit einem separaten per Mikro aufgenommenen Audiotrack synchronisieren kann. Was heutzutage alles geht!

Bald Trinkgeld im Supermarkt?

Abbildung [29]: Kaum zahlt man mit Kreditkarte, wollen viele Läden Trinkgeld.

Michael Wisst ihr was der erfolgreichste Rundbriefartikel aller Zeiten ist? Er heißt "Was Deutsche falsch machen in Amerika" (Rundbrief 08/2000) und erläutert das korrekte Trinkgeldgebaren in Amerika. Damals, vor 21 Jahren, habe ich mich noch darüber aufgeregt, dass deutsche Touristen in den USA oft nicht genug Trinkgeld geben, und den Bedienungen der Lokalen damit ungerechtfertigt den Lohn kürzen. Und bis heute knallen laut Google Analytics auf dieses Traktat die meisten Treffer rein.

Mittlerweile hat sich das Problem allerdings umgekehrt, da es kaum noch deutsche Touristen gibt, aber immer mehr dreiste Service-Betriebe in San Francisco immer horrendere Trinkgeldforderungen erheben. Im traditionellen Trinkgeldbetrieb, dem Speiselokal, wird man mittlerweile schon schief angesehen, wenn man nicht mehr die seit Jahrhunderten üblichen 15% gibt. Die Bedienungen, deren Serviceleistung seit Jahren proportional steil bergab geht, wollen heutzutage 20%, wenn nicht noch mehr! Wer jetzt "Inflation!" schreit, muss die Prozentmathematik der Grundschuljahre wiederholen, denn Prozentwerte erhöhen sich nicht, nur die entsprechenden Geldbeträge.

Abbildung [30]: Mit dem Trinkgeldtopf fing alles an.

Angefangen hat alles in kaffeeausschenkenden Geschäftslokalen, wo heutzutage flächendeckend sogenannte "Tip Jars" an der Kasse stehen. Die wenigen Barzahler werfen, auch wenn sie als "To Go"-Kunden keinerlei Serviceleistung erhalten, als Münzen erhaltenes Wechselgeld dort hinein, wenn sie ihren Kaffee-Latte bezahlen. Aber wofür eigentlich? Für das Aufschäumen der Milch, das Eingießen des Kaffees, oder das Abkassieren?

Abbildung [31]: Wieso will die Bäckereiverkäuferin auf einmal Trinkgeld?

Neulich war ich in unserem modischen neuen Fischladen um die Ecke, kaufte etwas rohen Thunfisch und zahlte mit Kreditkarte, schwupps kam mir ein Dialog auf dem Terminal entgegen, der fragte, ob ich lieber 15, 20 oder 25 Prozent Trinkgeld geben wolle. Schon wieder: Wofür eigentlich? Der Fischverkäufer hat nur das Stück Thunfish, auf das ich gezeigt habe, auf die Waage geworfen, den Preis eingetippt, den Fisch eingewickelt, das Etikett auf das Packerl mit dem Fisch gepappt und abkassiert. Ich wählte natürlich eiskalt Null aus. Wieso sollte der trendige Fischverkäufer mehr verdienen als der Fischthekenmann im Supermarkt?

Abbildung [32]: Diese Bäckerei luchst den Kunden ohne Serviceleistung Trinkgeld ab.

Trinkgeld wird vor allem in linken Hochburgen wie San Francisco mittlerweile als Almosen für Geringverdiener interpretiert. Der millionenschwere Internetfuzzi denkt: "Ach, der Kaffeeaufschäumer verdient ja nur 15 Dollar die Stunde, und ich bin stinkreich, also hau'n wir mal 'nen Dollar in die Trinkgeldbüchse, kost mich ja nix!". Was der großzügige linke Gutsherr freilich nicht bedenkt, ist, dass nicht jeder irres Einkommen von Technologieunternehmen in den Arsch geschoben bekommt. Was ist, wenn sich auch ein Bauarbeiter mal einen Kaffee gönnen möchte, überzahlt er dann auch mit einem Zehntel seines Stundenlohns, für eine Leistung, die eigentlich schon im Kaufpreis enthalten ist?

Eisern resistent gegen diesen neuen Trinkgeldwahnsinn zeigen sich übrigens Fast-Food-Lokale. Bei einem McDonald's, Burger King, Wendy's oder In&Out-Burger wird man niemals einen Trinkgeldtopf finden. Ich habe sogar einmal irgendwo gelesen, dass die Uniformen der Mitarbeiter bei McDonald's absichtlich keine Taschen haben, damit kein Trinkgeld dort hinein verschwindet.

Das Perfide an dem neuen Gebahren ist, dass dieses "Trinkgeld" am Kreditkartenterminal oft nicht in die Taschen der Angestellten wandert, sondern zumindest teilweise von den Betreibern des Ladens einbehalten wird. Wer also denkt "Okay, ich bin eh reich, mir ist das wurscht wenn ich 20% mehr zahle" signalisiert dem Laden, dass dessen Preise zu niedrig sind und auch 20% mehr drin währen. Dem reichen Protz ist das wiederum egal, wenn der Laden dann die Preise hochschraubt, aber die Klientel, die eh knausern muss, kann sich dann noch weniger leisten. So verkehrt sich die eigentlich naiv-noble Absicht ins Gegenteil: Der Millionärsozialst treibt die Preise für jedermann hoch, und seine Schützlinge in der Arbeiterklasse leiden tatsächlich unter dem Gebahren ihres vermeintlichen Wohltäters. Darüber sollten die auf dicke Hose machenden Trinkgeldschleudern mal nachdenken.

Dabei scheint völlig unter den Tisch zu fallen, wofür das Trinkgeld eigentlich gezahlt wird: Als Extraleistung dafür, dass sich der Gast im Restaurant hervorragend bedient fühlt. Zugegeben, es ist durchaus mit Arbeit für den Kellner verbunden, Gäste zügig nach ihren Wünschen zu befragen, vielleicht auch noch ein freundliches Gesicht dazu aufzusetzen, und vielleicht nicht ganz so angestrengt mit den Kollegen hinter dem Tresen zu ratschen, dass er seinen Beruf und die damit verbundenen Aufgaben dabei temporär völlig vergisst, wenn der Gast dezent seit zehn Minuten zum Bezahlen winkt. Mit dem Trinkgeld drückt der Gast beim Bezahlen dann seine Zufriedenheit mit der von der Bedienung gebotenen Serviceleistung aus. Fühlte er sich hervorragend umsorgt, rückt er auch mal 20% des Rechnungsbetrages als Belohnung dafür heraus. Und das sind nach Adam Riese bei in San Francisco nicht unüblichen Rechnungsbeträgen von 100 oder 200 Dollar schon mal 20 oder 40 Dollar, und ein Kellner in einem normalen Restaurant verdient pro Stunde vielleicht 10 oder maximal 15 Dollar.

Welche Motivation hätte ein Kellner wohl, sich anzustrengen, wenn das Trinkgeld mit 20% fest als Aufschlag auf die Rechnung verankert wäre, wie dies manche Restaurants hier in San Francisco schon probiert haben? Eine natürliche Reaktion wäre, die Serviceleistung auf das Niveau herunterzufahren, das vor vielen Jahren in Gaststätten der DDR geboten wurde. Jede mir bekannte Gaststätte in San Francisco, die dieses Experiment bislang versucht hat, musste über kurz oder lang wieder zum alten Verfahren zurückspulen, da die Gäste sich vollkommen verarscht vorkamen. Als Folge mieden viele von ihnen diese gespinnerten Lokalitäten, und schnabulierten sich statt dessen durch die Speisekarten der weniger weltfremden Konkurrenz.

Eine weitere interessante Frage wäre, warum zum Beispiel eine Kaffeeaufschäumerin in einem trendigen Café für ihre Arbeit mit Trinkgeld belohnt wird, aber eine Supermarktkassiererin bei diesem massiven Geldregen außen vor bleibt. Würde die sich nicht über 15 Dollar freuen, wenn sie einen Einkaufswagen mit 100 Dollar Warenwert abkassiert? Oder ein Postbote, der schwer schnaufend ein Amazon-Paket im Wert von 100 Dollar anschleppt, wieso bekommt der nicht 15 Dollar auf die Hand als Entlohnung? Ich habe übrigens vor vielen vielen Jahren mal als Postbote gearbeitet und es kam durchaus vor, dass mir mal jemand einen Zehner oder so zugesteckt hat. Hat mich immer sehr gefreut damals, und ich habe das nicht als Dauerzwangsabgabe verstanden, sondern als Ansporn, das nächste mal vielleicht nicht den Umschlag mit dem Fotoband in den übervollen Briefkasten zu knüllen, sondern statt dessen die Türklingel zu betätigen und das wertvolle Stück trotz Zeitverlust persönlich auszuhändigen. Geld regiert die Welt.

Grüße:

Angelika und Michael

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Letzte Änderung: 14-Jan-2023