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Rundbrief
  Rundbrief Nummer 134  
San Francisco, den 19.05.2020
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Rundbrief


Abbildung [1]: Der Flowbee kürzt die längeren Haare auf der Kopfmitte akkurat auf die selbe Länge.

Michael Es wird wohl noch eine Weile dauern, bevor unser gestrenger Gubernator uns wieder zum Friseur lässt, aber unsere Haare lassen sich davon nicht beeindrucken und wachsen weiter wie nicht gescheit. Bei mir war der letzte Friseurbesuch schon über drei Monate her, und ich gehe sonst so einmal im Monat zu meinem Stammbarbier, also war schnelles Handeln gefragt. Ich erkundigte mich in der Arbeit nach Lösungen, und die Witzbolde dort empfahlen den sogenannten "Flowbee", ein System aus dem letzten Jahrhundert, das wohl jeder mittelalte Amerikaner aus der Fernsehwerbung seiner Jugend kennt.

Abbildung [2]: Der Flowbee-Apparat. Nicht gerade billig, aber ein Klassiker.

Es handelt sich um ein Schneidewerk am Ende eines langen Schlauches, das man mit einem Staubsauger verbindet. Der saugt durch den Schlauch die Haare an, und das Säbelwerk kürzt sie alle auf die gleiche Länge. Der exorbitante Preis von $145 schreckte mich nur kurzfristig, aber dann dachte ich mir, das Teil muss ich unbedingt im Rundbrief bringen, und klickte den "Buy"-Knopf. Gleichzeitig orderte ich eine professionelle Haarschneidemaschine, den "Wahl Pilot Clipper #8483", und nach dem Ansehen einiger Youtube-Videos war ich mir sicher, meine Haare sauber stutzen zu können.

Abbildung [3]: Die Seiten kürzt Michael mit einer professionellen Haarschneidemaschine.

Erst kürzte ich wie in den Youtube-Videos beschrieben die Seiten mit dem Trimmer, aber beim Deckhaar an der Kopfoberseite, das man länger lassen muss, weil es sonst unmöglich und Vokuhila-mäßig aussieht, hatte ich Probleme, die Bewegungen der Schere im Spiegel zu koordinieren. Flugs holte ich den Flowbee raus, wählte einen etwa 2,5 cm langen Aufsatz, schaltete Staubsauger und Flowbee-Schneidewerk an und tippte damit flächendeckend auf der Kopfoberseite herum. Ruckzuck saugte der Flowbee bei jedem Kopfkontakt die Haare an und schnitt sie akkurat auf gleicher Länge ab. Das ging so mühelos, ich merkte kaum, dass überhaupt etwas abgeschnitten wurde. Sauerei gibt's auch keine, weil der Staubsauger alles Abgeschnittene sofort einsaugt. Topp-Produkt!

Video: Flowbee-Verarsche im Film Wayne's World

Rundbriefleserin Conny hat uns übrigens darauf hingewiesen, dass ein Klon des Flowbee-Apparats schon in dem 1992 erschienenen Film Wayne's World vorkam, als Verarsche des damals wohl im amerikanischen Fernsehen exzessiv beworbenen Flowbee-Systems. In einer lustigen Szene bekommt Garth dort von einem Industrievertreter einen offensichtlich schmerzhaften Haarschnitt verpasst. Der echte Flowbee ist aber richtig sanft, wie gesagt, man merkt gar nicht, dass etwas passiert, aber die Haare sind hinterher definitiv kürzer als vorher und alle exakt gleich lang.

Abbildung [4]: Vom Friseur sieht Michaels Wirbelfrisur auch nicht besser aus.

Das Ergebnis, nach etwa einer halben Stunde Arbeit, kann sich sehen lassen, finde ich (Abbildung 4). Wenn ich vom Friseur heimkomme, sehe ich etwa gleich aus, meine Haare sind nunmal etwas wirbelig. Nach diesem Anfangserfolg stutzte ich mit dem Trimmer auch gleich noch Angelikas Kurzhaarschnitt und verpasste ihr sogar noch die professionelle Tönung, die sie bei ihrer Stammfriseuse per kontaktfreier Lieferung bestellt hatte. Das war zwar eine Schweinearbeit, die sich über eine gute Stunde hinzog, aber das Ergebnis war wirklich zufriedenstellend (Abbildung 5). Merke: Servicehandwerker kochen auch nur mit Wasser, und mit etwas Übung können auch Amateure ähnliche Resultate erzielen.

Abbildung [5]: Angelika bekam vom Hausfriseur einen Haarschnitt mit Tönung.

Abbildung [6]: Abendspaziergang über die Stufen der Cesar-Chavez-Straße im oberen Teil von Noe Valley.

Angelika Wie oft haben wir schon gedacht, als wir in so mancher schönen Weltstadt Urlaub machten, hier könnten wir ein Jahr bleiben und hätten doch noch immer nicht alles gesehen. In Tokio ging es uns damals so, aber natürlich auch in New York. Bisher dachten wir eigentlich, dass wir San Francisco wie unsere Westentasche kennen, denn wir leben ja jetzt schon seit über 20 Jahren in dieser Stadt und sitzen am Wochenende wirklich nicht auf dem Sofa, sondern machen uns auf, unsere Stadt zu erkunden. Allerdings kennt ihr das sicher, dass es einen doch immer wieder aus Gewohnheit an die Lieblingsplätze zieht. Bestimmte Gegenden meiden Einheimische dann auch in San Francisco, denn sie sind so von Touristen überrannt, dass man zu normalen Zeiten keinen Fuß auf die Erde bekommt.

Abbildung [7]: Die Touristenplattform auf Twin Peaks ist für den Autoverkehr gesperrt und wie leergefegt.

Allerdings ist zur Zeit alles anders, denn die Coronapandemie und die Reisebeschränkungen haben die Touristen aus dem Stadtbild vertrieben. So entdecken wir auf unseren täglichen abendlichen Spaziergangen auch wieder Ecken, an denen wir eigentlich sonst Touristen den Vortritt lassen. Neulich spazierten wir im weichen Abendlicht in den Außenanlagen des ehrwürdigen Gebäudes "Palace of the Fine Art" herum, das 1915 zur Panama-Pacific-Ausstellung errichtet wurde, und wir hatten das Gebäude fast für uns allein. An einem anderen Abend wanderten wir durch den Presido-Park zum Marshall's Beach, über viele versteckte Holztreppen in der Dünen- und Klippenlandschaft. Wir wurden mit einem fantastischen Ausblick auf die Golden Gate Bridge und den Pazifischen Ozean belohnt, denn der Marshall's Beach befindet sich in unmittelbarer Nähe der Brücke.

Abbildung [8]: Michael tippt trotz phänomenaler Aussicht am Marshall's Beach auf seinem Telefon herum.

Da San Francisco sehr hügelig und vom Wasser umgeben ist, gibt es immer wieder diese Momente von atemberaubender Schönheit, wenn einem die Stadt von hoch oben zu Füßen liegt. Auch ist der Himmel zur Zeit oft so blau, als ob ihn ein Kind im Bilderbuch angemalt hätte. Das liegt natürlich auch an der geringeren Luftverschmutzung durch weniger Autos und Flugzeuge. Wir verlieben uns gerade wieder neu in unsere Stadt, denn extrem hohe Mieten und Lebenshaltungskosten, dreckige und vollgestopfte Straßen und Bausünden hatten unsere alte Liebe ein wenig rosten lassen.

Abbildung [9]: Todesmutig schreitet Angelika auf der sonst für Fußgänger gesperrten Trasse der Muni-Straßenbahn.

Es ist schon erstaunlich, welche Strecken man zu Fuß zurücklegen kann. Besonders das Buch "Stairway Walks in San Francisco" hilft uns, immer wieder neue Ecken zu endecken. Es beschreibt Wege in San Francisco, die alle möglichen Fußtreppen mit einbeziehen. Durch die Hügel bedingt verfügt San Francisco über viele solcher Verbindungen. Oft kommt man mit dem Auto nicht weiter, aber Treppen führen den Fußgänger von oben nach unten oder umgekehrt. Über 600 solcher Treppen zählt San Francisco. Es gibt große, lange Treppen, offene und versteckte. Die versteckten sind oft von wunderschönen, verwunschenen Gärten umgeben.

Abbildung [10]: Michael vor dem verwaisten Andenkenladen an der Fisherman's Wharf.

Das Treppenbuch, das von Adah Bakalinsky geschrieben wurde, kennen wir tatsächlich schon aus unseren ersten Jahren in San Francisco, denn als wir hier herzogen, machten wir den ein oder anderen Weg aus dem Buch, oft auch mit Besuch im Schlepptau. Mittlerweile ist das Buch schon einige Male mit der Unterstürzung von Adahs Freundin Mary Burk überarbeitet und ergänzt worden. Wir sind nah dran, dass wir alle beschriebenen Wege schon mindestens einmal abgelaufen sind. Aber wir können auch mit Stolz sagen, dass wir seit nunmehr fast 10 Wochen, nämlich seit San Francisco sich im Ausnahmezustand befindet, jeden Tag (bis auf drei Außnahmen) abends nach der Arbeit losgezogen sind.

Abbildung [11]: Der Stadtstrand "Ocean Beach" bietet genug Auslauf, damit Spaziergänger Abstand halten können.

Neben den Treppenwegen zieht es uns auch immer wieder zum "Ocean Beach" direkt in der Stadt. Im Gegensatz zu anderen Stränden in der weiteren Umgebung hatte unsere Bürgermeisterin Erbarmen und riegelte den Strand nicht ab. Die Parkplätze direkt am Strand sind zwar zu, um angeblich die Flut der Strandgänger von außerhalb einzudämmen, aber wir finden in den Seitenstraßen immer einen Parkplatz. Auch ist der Great Highway, der direkt parallel zum Strand verläuft, teilweise gesperrt, sodass Fahrradfahrer und Fußgänger diesen Straßenabschnitt nun ungestört benutzen können. Der Strand ist eh sehr breit, vor allen Dingen bei Ebbe, und Spaziergänger kommen sich nicht in die Quere. Da es in der Regel nicht warm genug zum Sonnenbaden, und das Wasser zu kalt zum Baden in den Wellen ist, kennen wir Szenen, wo Sonnenanbeter dicht an dicht auf ihren Badetüchern liegen, am Ocean Beach sowieso nicht. Für mich gibt es nichts Entspannenderes, als sich beim Strandspaziergang den Wind um die Ohren wehen zu lassen und die salzige Luft einzuatmen. Die beste Therapie gegen Coronastrapazen.

Technik für Warteschlangen

Abbildung [12]: Wie lange ist die Schlange vor einem Supermarkt wohl gerade

Michael Die Warterei vor den Lebensmittelgeschäften ist die wohl nervigste Angelegenheit der Krise. Nicht selten stehen 20, 30 Leute vor der Ladentür, alle im Abstand von 6 Fuß (und gerne mehr) voneinander, und die Schlange zieht sich um die nächste Straßenecke herum. Vor manchen Läden sieht man sogar zwei separate Schlangen, die sich in verschiedene Richtungen erstrecken: Eine für normale Einkäufer und eine für sogenannte "Instacarter".

Abbildung [13]: Eine Website, die anzeigt, wie lange die Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften der Umgebung sind.

Letztere sind Arbeitssklaven der Firma "Instacart", die für Leute einkaufen, die Lebensmittel online mittels der "Instacart"-App aussuchen und dann vor die Tür geliefert bekommen. Den eigentlichen Einkauf erledigen irgendwelche Niedriglöhner, die im Laden rücksichtslos herumrennen, auf ihr Smartphone starren, und keine Ahnung haben, in welchem Regal die verlangten Produkte denn sind. Nach Kundenbeschwerden hatten die Geschäfte den Instacartern eine eigene Warteschlange zugewiesen, und verließ ein Kunde den Laden, durfte abwechselnd eine Person aus einer der beiden Schlangen eintreten. Dann beschränkten einige Läden die Anzahl der Instacarter im Laden, und nur wenn ein Instacarter den Laden verließ, durfte ein neuer aus der Instacarter-Schlange rein, sonst wurden nur normale Kunden eingelassen.

Abbildung [14]: Daumen nach unten: Jeder darf die tatsächliche Wartezeit korrigieren.

Nun ist es tierisch nervig, mit dem Auto zu einem Laden zu fahren, nur um zu sehen, dass die Schlange mal wieder hoffnungslos lang ist, und so machten sich einige technisch Versierte daran, mit der Website Storequeue.com die Kunden selbst melden zu lassen, wie lang die Wartezeit vor einem bestimmten Laden nun eigentlich ist. Dabei zeigt die Website alle bekannten Lebensmittelgeschäfte in einem einstellbaren Radius an, und die zuletzt gemeldete Wartezeit. Steht man selber vor einem Laden, und die Wartezeit stimmt, meldet man das, indem man das "Like"-Symbol antippt. Stimmt sie nicht, kann man auf "Daumen nach unten" eingeben, wie lange man wirklich gewartet hat.

Das Ganze klappt natürlich nur, wenn viele mitmachen, aber es scheint zu funktionieren, denn neulich sah ich um die Mittagszeit, dass laut Storequeue die Wartezeit vor unserem sonst total überlaufenen Trader Joes nur 10 Minuten betrug, und ich rannte gleich runter, setzte mich ins Auto und fuhr hin. Ich konnte es kaum glauben, aber da standen wirklich nur drei Leute vor der Eingangstür, und innerhalb von fünf Minuten war ich drin. Aus Schreck tätigte ich gleich einen Hamsterkauf. Topp-Produkt!

Brotteig vom Telefonmasten

Abbildung [15]: An einem Telefonmasten hat jemand Sauerteig-Kulturen befestigt, damit Nachbarn Brot backen können.

Angelika Mehl und Hefe sind hier immer noch rar in den Supermärkten. Scheinbar hat ein Großteil der Bevölkerung das häusliche Backen entdeckt. Auch Brotbacken soll gerade sehr im Trend sein. Lustigerweise entdeckten wir auf einem unserer abendlichen Stadtgänge nicht weit von unserem Zuhause ein paar in Plastiktüten versiegelte Teigreste, die jemand mit Instruktionen an einen Telefonmasten genagelt hatte. Bei näherem Hinsehen stellte sich dann heraus, dass es sich um einen Sauerteigstarter fürs Brotbacken handelte, den man laut der Anleitung jeden Tag mit einer Viertel Tasse Mehl und 2 Esslöffeln Wasser weiter ansetzen musste.

Die Anleitung war für mich doch etwas dürftig, aber ich habe auch noch nie Brot selber gebacken. Wir haben die Sauerteigkultur dann auch nicht mitgenommen, was im Nachhinein eine weise Entscheidung war. Mir schwante es schon, dass etwas, das jeden Tag Fürsorge braucht, zu aufwendig ist für meinen Geschmack. Als ich das Internet nämlich befragte, wie das mit einem Sauerteigbrot genau geht, versprachen zwar alle Einträge wie super einfach das wäre, aber der Zeitfaktor und die extra benötigten Küchenutensilien wie zum Beispiel ein Gärkörbchen wären dann doch nichts für mich. Ich habe ja schon genug damit zu tun, meine Schüler über Videokonferenzen in Schach zu halten zur Zeit.

Sprudelmaschine statt Pellegrino

Abbildung [16]: Der Kohlefilter und die Sprudelmaschine als Pellegrino-Ersatz.

Michael Bekanntlich nervt mich nichts mehr, als für irgendwelche banalen Sachen Schlange zu stehen. Das Abendessen im Szene-Restaurant, vor dem die Leute stundenlang auf einen Tisch warten? Findet ohne mich statt. Einkaufen am Sonntag nachmittag, wenn sich Amerikaner in den Supermärkten tottrampeln? Nee, da kreuze ich erst 15 Minuten vor Ladenschluss auf, da geht es zügiger. Nun könnt ihr euch sicher lebhaft vorstellen, wie begeistert ich auf die närrischen Regierungsvorschriften während der Coronakrise reagiert habe. Vor jedem Supermarkt bildeten sich lange Schlangen wie in der schlimmsten Misswirtschaft, und statt einmal im Monat bei unserem Megasupermarkt Costco Pellegrino einzukaufen, musste ich mich nach neuen Quellen für Sprudelwasser umsehen.

Nun ist das Leitungswasser in Amerika in den Großstädten stark gechlort, und deshalb haben wir es bislang nur zum Kochen verwendet, aber gerade noch rechtzeitg vor dem Zusammenbruch der Lieferungen hatte ich bei Amazon eine Brita-Filterkanne und eine Sodastream-Blubbermaschine bestellt. Die Aktivkohle des Filters holt das Chlor aus dem Wasser, angeblich auch noch weitere Schadstoffe, und zweimal auf den Knopf der Sprudelmaschine gedrückt, und schon steht astreines Mineralwasser in Glasflaschen auf dem Tisch. Ich war überrascht, wie gut es schmeckte, und weiß noch gar nicht, ob wir jemals wieder zu Pellegrino zurückkehren werden.

Abbildung [17]: Ein Adapter, um die viel billigeren regulären Gasflaschen an die Sodastream-Maschine anzuschließen.

Nun fahren die Sodastream-Gauner ja absurd hohe Gewinne mit den Kohlendioxid-(CO2)-Flaschen ein, die man jeden Monat austauschen muss. Da kosten Kartuschen mit 350g CO2 zum Sprudelmachen schlappe 30 Dollar, und man bekommt 15 Dollar Pfand zurück, aber nur falls man den Sodastream-Gaunern mehr mondteures CO2 abkauft, sonst ist das Pfand unwiederbringlich verloren. Offensichtlich totaler Nepp, denn ein Kilo CO2 kostet nur etwa 2 Dollar, das muss man sich mal reinziehen! Wer also sein CO2 fürs Blubberwasser im Schweißerladen als "Beverage Grade CO2" kauft, zahlt für die Menge einer Sodastream-Neppkartusche statt $30 nur etwa 60 Cent.

Auf Youtube kursieren nun reihenweise Videos, wie man die Blubbermaschine mit ihrem Spezialanschluss an normale CO2-Gasflaschen vom Schweißerladen anschließt, und auch Amazon bietet bereits Schläuche und Adapter an.

Den Schlauch habe ich trotz des horrenden Preises von $90 gleich bestellt, obwohl man ähnliches wohl für $20 mit Teilen vom Heimwerkermarkt bauen könnte, aber bei Gas bin ich eher konservativ. Leider kommt zur Zeit wegen Corona noch die Schwierigkeit hinzu, dass wir eine weltweite CO2-Knappheit durchleben, der Laden für Schweißerbedarf in San Francisco verkauft derzeit nur noch an Stammkunden. Aber auch das wird sich wieder legen, und das CO2 wird strömen, wartet's ab!

Teddybären im Fenster

Abbildung [18]: Instruktionen für das Teddybär-Suchspiel für Kinder.

Angelika Wer mit jüngeren Kinder arbeitet oder eigene Kinder hat, kennt den Klassiker "Wir gehen auf Bärenjagd" von Michael Rosen. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich schon diese Bilderbuchgeschichte mit Kindern nachgespielt habe und zusammen mit ihnen durch das hohe Gras gekrochen, im Schlamm gestampft und durch den Fluss geschwommen bin, um schließlich an der Bärenhöhle anzukommen. Kurz nachdem die Ausgehbeschränkungen angeordnet wurden, sahen wir auf unseren Spaziergängen, immer wieder in Fenster gestellte Tedddybären.

Abbildung [19]: Diese Familie hat einen Teddybären für das Suchspiel ins Fenster gestellt.

Erst dachten wir uns, da haben Kinder ihre Plüschtiere einfach nur so ins Fenster gesetzt, aber bald war klar, dass mehr dahinter steckt, sozusagen ein Coronapandemie-Spiel. Die Regeln sind einfach: Die Aufgabe ist es, möglichst viele Teddybären in den Fenstern zu finden. Eine gute Sache, um Kinder bei den erlaubten Spaziergängen an der frischen Luft bei Laune zu halten. Ehrlich gesagt macht uns das Ganze auch Spaß, und wir freuen uns immer, wenn wir wieder einen Bären entdecken.

Abbildung [20]: Aufmunterndes Schild auf einem Balkon.

Neben den Bären lassen auch viele ihren künstlerischen Ambitionen freien Lauf und hängen zum Beispiel Schilder mit aufmunternden Botschaften in ihre Fenster oder auf ihre Balkone. Unser Viertel ist voll davon: "Let the Distance Keep Us Together" ("Lass die Distanz uns zusammenhalten") strahlte uns groß von einem Balkon entgegen. Einigen danken auch dem medizinischen Personal oder anderen Kräften, die in dieser Krise gerade sehr viel leisten. In einer anderen Seitenstraße ganz bei uns in der Nähe hat der Hausbewohner den Fußweg mit großen Plastik-Flamingos dekoriert, die einem freundlich entgegenlachen und gute Laune verbreiten.

Abbildung [21]: Alle Spielplätze sind wegen Corona geschlossen.

Die Idee musste ich natürlich gleich pädagogisch verwerten und an meine Schüler weitergeben. Ich drehte ein Video von den Schildern bei unseren Spaziergängen, spielte meinen Kommentar auf das Video drauf, zeigte meinen Schülern das Video, und ließ sie dann ähnliche Schilder kreieren und sichtbar in ihre Fenster hängen.

Genähte Masken

Abbildung [22]: Michael näht auf seine alten Tage noch Stoffmasken.

Michael Zwar bin ich kein Schneidermeister, aber stolzer Besitzer einer Nähmaschine, kann Ober- und Unterfaden einlegen und einfache Muster nähen. Nachdem Supermärkte in San Francisco mittlerweile vorschreiben, dass die Kunden Masken tragen, machte ich mich zähneknirschend daran, aus Resten von dem Stoff mit dem Sushi-Motiv, mit dem ich unsere Esstischgarnitur bezogen habe, zwei Masken zu nähen.

Einer wirklich simplen Anleitung auf Youtube folgend, gelang es mir, binnen einer Stunde zwei nicht nur hervorragend passende, sondern auch noch formschöne Masken mit Gummibändern zum Umschnallen zu zaubern.

Abbildung [23]: Angelika passt die Maske wie maßgeschneidert.

Ob die Maskierung etwas nutzt, bezweifle ich noch, denn man müsste die Masken eigentlich nach jedem Tragen waschen und trocknen, und man darf sich nicht mit den Fingern ins Gesicht fassen, wenn man sie an- oder ablegt. Keine Ahnung, ob's überhaupt was bringt, aber Vorschrift ist bekanntlich Vorschrift, da beißt die Maus keinen Faden ab, und einkaufen muss man ja irgendwann.

Offene Läden während Corona

Abbildung [24]: Der kleine Tante-Emma-Laden um die Ecke hat noch auf.

Angelika Während ihr euch in Deutschland schon über Lockerungen freuen könnt, geht bei uns noch nichts so recht vorwärts. Es werden immer noch viel zu wenig Menschen in den USA, und selbst in Kalifornien auf Corona getestet. Kein Mensch weiß hier so recht, wieviele Menschen wirklich infiziert sind. Ein Blick auf die Statistik offenbart, dass sich in San Francisco offiziell 2131 Menschen (Stand 18. Mai 2020) mit dem Coronavirus infiziert haben. Das macht bei 881549 Einwohnern weit unter 1 Prozent! Die Dunkelziffer könnte aber enorm hoch sein.

Abbildung [25]: Gerade Läden, die Alkohol verkaufen, haben ihre Fenster verrammelt.

Deshalb ist hier auch weiterhin fast alles herunter gefahren. Was ist nun zu der Liste der geöffneten Betriebe wie Lebensmittelläden, Wochenmärkte, Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken, Drogerien, Banken, der Post, Waschsalons, Tankstellen, Autowerkstätten sowie Heimwerkerläden, die wir in unserem letzten Rundbrief erwähnt haben, hinzu gekommen? Ehrlich gesagt, fast nichts. Nur Golf- und Tennisplätze sowie Gartencenter durften unter Auflagen am 5. Mai in San Francisco wieder öffnen. Und auf Baustellen darf wieder der Hammer geschwungen werden. Mein Zahnarzt hat zwar auf, behandelt aber zur Zeit nur Notpatienten. Andere Arztpraxen fangen erst ganz langsam wieder an, Routinebesuche zuzulassen. Bis dato lief das entweder über Videokonferenz oder der Termin wurde immer wieder verschoben.

Abbildung [26]: Null Touristen an der Fisherman's Wharf während der Corona-Krise.

Restaurantbesitzer in San Francisco versuchen auch weiterhin, sich mit Take-Out-Service über Wasser zu halten. Wann sie wieder Gäste an Tischen bedienen dürfen, steht noch in den Sternen. Ab heute (18. Mai) hat allerdings die Phase 2 der Geschäftsöffnungen in San Francisco begonnen. Es ist dabei etwas undurchsichtig, wie dies genau ablaufen soll. Kunden ist es immer noch nicht erlaubt, die Geschäfte zu betreten, sondern die Waren müssen am Straßenrand abgeholt werden. Von der Logik her braucht der Laden dann eine vernünftige Webseite, auf der der Kunde die Ware aussucht. Viele kleine Läden haben aber nicht ihr ganzes Sortiment online oder sind auf Online-Bestellungen überhaupt nicht eingerichtet. Bestellungen über das Telefon oder E-Mail wären theoretisch möglich, wenn der Kunde weiß, was er will. Ich bin gespannt, wie das laufen wird, denn kleinere Läden besucht der Kunde ja gerade, weil er sich etwas vor Ort aussuchen möchte. Wir werden im nächsten Rundbrief berichten, wie sich das Ganze eingespielt hat. Übrigens sind die Bestimmungen hier teilweise genauso unübersichtlich wie in Deutschland, denn unser Gouverneur Newsom gibt zwar vor, welche Lockerungen für ganz Kalifornien gelten, aber die einzelnen Landkreise und Städte können ihre eigenen strengeren Auflagen anordnen.

Abbildung [27]: Tote Hose bei den Ausflugsbooten an San Franciscos Touristenmeile Fisherman's Wharf.

Schulen sind aber bis nach den Sommerferien in ganz Kalifornien geschlossen. Als dies bekanntgegeben wurde, schluckten wir Pädagogen an meiner Schule schon ein wenig, denn dieses Lernen auf Distanz lässt sowohl bei uns, den Eltern und den Kinder die Nerven manchmal etwas blank liegen. Ich kann deswegen auch nur lachen, wenn Politiker rumtönen, die Schulen müssten sich mehr auf digitales Lernen einrichten. Die meisten meiner Schüler lieben alles, was mit Computern zu tun hat, aber wollen nichts mehr, als wieder im Klassenzimmer mit ihren Schulkameraden zu sitzen. Schule vermittelt eben mehr als Lerninhalte und ist immens wichtig für die soziale Entwicklung. Wer schon mal versucht hat, Acht- oder Neunjährige dazu zu bringen, selbstständig zu arbeiten, was das digitale Lernen voraussetzt, weiß wovon ich rede. Viele Studenten haben noch Schwierigkeiten damit. Naiverweise hatte ich auch gedacht, dass ich arbeitstechnisch auch Dinge adminstrativer Art erledigen könnte. Weit gefehlt. Ich sitze eigentlich den ganzen Tag in Videokonferenzen mit Schülern und Eltern oder bin im E-Mail-Kontakt, um zu helfen, zu beruhigen und zu motivieren. Ehrlich gesagt habe ich mehr zu tun als sonst. Auch unterrichte ich fast jeden Tag live über Zoom meine Schulstunde zum Sozial-Emotionalen Lernen. Mittlerweile bin ich ziemlich geübt darin, Spiele zu entwerfen, die wir über Videokonferenz spielen können.

Rücksichtslose Jogger

Abbildung [28]: Nur der Jogger trägt hier keine Maske.

Angelika Wer mich schon lange kennt, weiß, dass ich nicht gerade eine begeisterte Sportskanone bin. In der Schule hatte ich in Sport stets die schlechtesten Noten, was mich allerdings nicht weiter störte, denn lieber gut in Englisch und in Sport eine Niete als umgekehrt! Aber ich habe im Sportunterricht oft sehr gelitten und viele recht doofe Sportlehrer gehabt, die nicht verstanden, warum es mich schauderte und ängstigte, über einen Bock zu springen. Heutzutage bewege ich mich gern, vor allem an der frischen Luft: Wandern, schwimmen im Ozean, Fahrradfahren, Bogie Boarden auf Hawaii; ich bin dabei. Es herrscht ja vielfach die Meinung, dass die USA nur aus übergewichtigen Menschen besteht, die sich auf der Couch herum lümmeln und Kartoffelchips und Popcorn in sich hinein schaufeln. Das ist natürlich, wie immer, etwas zu einfach gedacht. Auch für viele Amerikaner ist Bewegung und Sport wichtig.

Und es gibt natürlich auch solche, die es übertreiben und die sich den ganzen Tag damit beschäftigen, wie sie ihren Körper optimieren können. Ein Besuch am Strand von Los Angeles offenbart vieler solcher Exponate, die nicht nur ständig ihre Muskeln trainieren, sondern ihre durchtrainierten Körper auch zur Schau stellen müssen, ob ihre Mitmenschen das nun sehen wollen oder nicht. Mir ist eh alles suspekt, was als extrem daher kommt: Extreme polititische Einstellungen genauso wie Gesundheitsfanatiker. Mein Motto ist eher: Alles in Maßen. Bis jetzt hatte ich eher den Eindruck, dass San Franciscoaner zwar gern draußen, aber nicht völlig durchgeknallt sind, wenn es um sportliche Ertüchtigung geht. Die Coronakrise hat aber in San Francisco leider noch zu einer anderen Epedimie geführt. Da Yoga- und Fitnesstudios geschlossen sind, verstopfen neuerdings die Jogger, wie sonst die Autos die Straßen.

Dabei lassen sich die Jogger nach meinen Beobachtungen in drei Kategorien einteilen: Die, die schon immer gerne joggen gingen. Die, die noch nie im Leben gerannt sind, und jetzt in der Krise das Joggen angefangen haben, was man meist daran bemerkt, dass sie völlig erschöpft mit rotem Kopf an einem vorbeitraben, sodass man Angst hat, dass sie gleich zusammenbrechen. Und dann die, die ohne Joggen nicht leben können und wie die Irren durch die Landschaft sprinten, ohne Rücksicht auf Verluste. Auf die letztere Kategorie bin ich gerade nicht so gut zu sprechen. Menschen haben bekanntlich hinten im Kopf keine Augen, was auch für Spaziergänger auf Bürgersteigen zutrifft. Einige dieser Jogger, die mit einem Affenzahn schnurgerade in der Gegend herum sprinten, scheinen diese wichtige Erkenntnis vergessen zu haben. Nun ist es mir schon einige Male passiert, dass diese Jogger so dicht an mich herankamen, dass ich ihren Atem im Rücken gespürt habe, bevor sie hautnah an mir vorbeigerauscht sind, obwohl genug Platz zum Ausweichen war. Scheinbar ist es für sie eine Zumutung, von ihrer geraden Linie abzuweichen und ein wenig Slalom zu laufen. Ich konnte nicht einmal lauthals protestieren, denn in der Regel haben diese Art von Jogger auch noch Stöpsel in den Ohren, weil sie beim Laufen Musik hören.

Abbildung [29]: Michael spaziert hier nur und rennt nicht im Kite-Hill-Park.

Nun weiß ich ehrlich gesagt nicht, welche Gefahr bezüglich Ansteckung von diesen Joggern ausgeht. Ich glaube mich ärgert eher die Rücksichtlosigkeit einiger Leute, aber das war schon vor der Coronakrise so. Glücklicherweise hält die Mehrzahl der Leute, denen wir hier bei unseren täglichen Spaziergängen begegnen, Abstand, oder sie gehen halt zur Seite, oder sagen auch schon mal Danke, wenn wir ihnen Platz machen. Michael ist da sowieso gelassener als ich. Meine Theorie ist ja, dass sich bei der derzeitigen Krise viel die persönliche Risikobereitschaft auf das Verhalten der Menschen auswirkt. Ich muss in letzter Zeit immer an eine faszinierende Vorlesung im Fachberreich Psychologie im Schloss zu Münster aus der Zeit vor meinem Heilpädagogikstudium denken. Schon allein, dass ich mich noch nach Jahrzehnten an den Inhalt der Vorlesung erinnere, ist erstaunlich und zeigt schon, wie interessant ich den Stoff fand. Professor Ulrich Tränkle, seines Zeichens führender Verkehrspsychologe, erklärte uns die Psychologie der Risikowahrnehmung und wie sich diese auf Entscheidungen auswirkt. Menschen beurteilen Risiken nicht unbedingt objektiv, sondern subjektiv, es kommt durch diese subjektive Wahrnehmung oft zu Fehlentscheidungen. Was wohl der gute Herr Tränkle zu den derzeiten Coronamaßnahmen sagen würde? Leider ist er schon 1995 gestorben und kann nichts mehr dazu beisteuern.

Liebe Grüße aus Sankt Frankstadt!

Angelika und Michael

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Letzte Änderung: 19-May-2020