(Angelika) Szenenwechsel: Neulich schlenderte ich einmal wieder die 24te Straße in unserem Viertel hoch und rannte an jeder Straßenecke in ein paar Schulkinder, die Kekse oder Schokolade verkauften. Früher habe ich nie verstanden, was es damit auf sich hat. Aber nachdem unsere Nachbarskinder auch schon an unsere Tür klopften, um ihre Schokolade loszuschlagen, weiß ich Bescheid. Die Kinder versuchen nicht etwa, der Schokoladenindustrie zu helfen, nein, sie sammeln Geld für ihre Schule, indem sie Riegel für 60 Cents mit einem Aufdruck versehen, $2.00 dafür verlangen und das Geld für einen guten Zweck weitergeben. Das nennt man in Amerika "fund raising". Die Schule unserer Nachbarskinder braucht z.B. neue Computer. Nun sammeln die Kinder nicht etwa, weil es ihrer Schule so schlecht geht. Das "Fund Raising" ist ein uramerikanisches Prinzip. Es zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben eines jeden Amerikaners. Da der amerikanische Staat nur dann hilft, wenn es gar nicht mehr anders geht, sind amerikanische gemeinnützige Einrichtungen und Organisationen auf Spenden angewiesen. Amerikaner sind nicht nur Weltmeister im Spenden sondern auch aüßerst kreativ, wenn es darum geht, wie man das Geld eintreibt. Es gibt Marathons und Bälle, deren Teilnehmer Sponsoren zusammentrommeln, um die hohen Eintrittsgelder (teilweise in Höhe mehrerer Tausend Dollar) zu bezahlen, die dann an den guten Zweck gehen. Man fährt Fahrrad von San Francisco nach Los Angeles und Kinder verkaufen auf dem Gehsteig Limonade. Am Wochenende sehen wir häufig Jugendliche, die mit Schildern wedeln, um Autos in einen Parkplatz zu lotsen. Dort waschen sie dann das Auto gegen Entgeld, das dann an die gemeinnützige Einrichtung geht. Gespendet wird im großen Stil: Ganze Museen und Universitäten wurden so geschaffen. In solchen Einrichtungen findet man in der Regel mindestens einen Mitarbeiter, dessen einzige Aufgabe es ist, Spenden von der Industrie und wohlhabenden Mitbürgern einzutreiben.
Hinzu kommt, dass es in den USA ein gesellschaftliches Muss ist, ehrenamtlich tätig zu werden. Ich kenne hier Leute, die voll berufstätig sind, mehr als 40 Wochenstunden arbeiten, Kinder haben und trotzdem mehrere Wochenstunden freiwillig gemeinnützige Arbeit leisten. Für das Wohl der Gemeinschaft zu arbeiten, wird dem Amerikaner früh eingebläut. Im Tenderloin haben wir z.B. oft Schulkinder, die eine ganze Woche lang unentgeldlich bei uns mitarbeiten. Die Schule organisiert das. Das dient nicht etwa der Berufsfindung, sondern die Kinder lernen, etwas für die Gemeinschaft zu tun ("give back to the community").
Die Möglichkeiten, ehrenamtlich zu helfen, sind unbegrenzt. Ein bekanntes Programm in Amerika heißt "Big Brothers, Big Sisters". Dabei kümmert man sich wie ein Mentor um ein Kind. Man unternimmt Ausflüge, hilft bei schulischen Schwierigkeiten, undsoweiter. San Francisco verfügt übrigens über eine Organisation, die ehrenamtliche Tätigkeiten koordiniert ("Volunteer Bureau of San Francisco). Einrichtungen geben dort bekannt, wann und wofür sie Helfer brauchen. Interessierte können diese Informationen einsehen und sich dann entscheiden, wo sie tätig werden möchten. Ich fand über dieses Büro übrigens das Tenderloin Childcare Center, in dem ich seit viereinhalb Jahren zweimal die Woche "voluntiere". Ich denke übrigens, dass europäische Politiker diesen Aspekt privater Hilfsbereitschaft (Spenden und ehrenamtliche Tätigkeit) vergessen, wenn sie blind Elemente amerikanischer minimaler Sozialpolitik nach Europa verpflanzen wollen.
Noch einmal zurück zu unseren sammelnden Nachbarskindern. Der Schokoladenverkauf war nicht etwa freiwillig. Jeder Schüler musste zwei große Kartons an den Mann bringen. Früh übt sich, was ein Meister werden will...
Bahn frei für Michael!