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Angelika/Mike Schilli |
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Michael Ich interessiere mich ja normalerweise nicht für Politik, außer vielleicht, wenn es was zu lachen gibt. Allerdings ist uns das Lachen in San Francisco aufgrund lokaler Gutfühlpolitik in den letzten Jahren vergangen. Wenn man sich kein Fahrrad mehr kaufen kann, weil es sofort gestohlen wird, oder kein Auto mehr auf der Straße parken, weil unbehelligte Diebe teilweise am hellichten Tag den Katalysator absägen, hört irgendwann der Spaß auf (Der Rundbrief hatte berichtet Rundbrief 11/2021).
So wie uns ging es vielen anderen auch, als wir zusehen mussten, wie der, wie in Amerika üblich, vom Stadtvolk für vier Jahre gewählte Staatsanwalt für San Francisco namens Chesa Boudin sich einfach weigerte, von der Polizei eingefangene Verbrecher anzuklagen, und selbst Wiederholungstäter, einer sehr radikalen politischen Ideologie folgend, einfach wieder und wieder laufen ließ. Aber irgendwann waren selbst die gutmütigsten Bürger von San Francisco dermaßen angefressen, dass sie per Unterschriftensammlung die Absetzung des untätigen Staatsanwalts einforderten, schon nach nur zwei Jahren seiner auf vier Jahre veranschlagten Amtszeit. Dieses "Recall" genannte Verfahren existiert im Bundesstaat Kalifornien für allerlei politische Ämter, auch der ein oder andere unserere Governeure musste sich schon so einem vom Volk forcierten Misstrauensvotum stellen. Die dafür notwendigen Unterschriften erzürnter Bürger waren schon im November zertifiziert, nun ging es am 7. Juni 2022 zur tatsächlichen Recall-Abstimmung.
Häufen sich solche Volksabstimmungen, was leider in Kalifornien der Fall ist, gehen allerdings viele Bürger aus Überdruss gar nicht mehr zur Wahl. Boudin wurde im Jahr 2019 bei insgesamt 41% Wahlbeteiligung mit nur wenigen Stimmen Vorsprung ins Amt gehoben. Beim Recall im Juni 2022 waren allerdings weite Teile der Stadtbevölkerung so verärgert über die Fehlleistungen des Staatsanwalts, dass sich sogar 46% aufrafften und ihre Stimme abgaben. 90% davon wählten per Briefwahl, 10% schleppten sich zu einem der vielen über die Stadt verteilten Wahllokale.
Wie aber mittlerweile leider quer durch die Politik üblich, führt heutzutage keine Partei mehr sachliche Wahlkämpfe oder kann auch nur ein demokratisch erzieltes Wahlergebnis akzeptieren. Wöchentlich fand ich neue Flugblätter im Briefkasten, hauptsächlich von Boudins fanatischen Anhängern, in denen mir in dramatischer Weise erklärt wurde, dass wer für den Recall stimme, ein Republikaner sein müsse! Das ganze Verfahren sei von Milliardären finanziert, die teilweise mit Republikanern im Kongress verbandelt wären! Lustigerweise ist San Francisco eine der linkslastigsten Städte der USA, mit etwa 5% Republikanern und 63% Demokraten, da ist "Republikaner" ein Schimpfwort, das kaum jemand auf sich sitzen lässt.
Außerdem muss man erwähnen, dass hier in den USA praktisch jeder Wahlkampf durch reiche Bürger gesponsert wird, die Werbespots im Fernsehen und Internet finanzieren und Geld für spektakuläre Bühnenauftritte mit vielen Luftballons zuschießen. Auch Boudins Anti-Recall-Wahlkampf wurde übrigens durch reiche Bürger finanziert, die seine Politik unterstützten. Aber zur Wahlurne schritten am Wahltag natürlich die Bürger, jeder mit nur einer Stimme, egal ob arm und reich.
Mit Spannung verfolgten wir am Abend die Auszählung der Stimmen, und relativ schnell stellte sich heraus, dass Boudin mit Pauken und Trompeten aus dem Amt befördert worden war. Ein Blick auf die Karte (Abbildung 6) zeigt, dass die lila eingefärbten reichen Althippieviertel (Bernal Heights, Haight-Ashbury, Noe Valley) sowie das lateinamerikanische Mission-Viertel den Staatsanwalt behalten wollten. Die Einwohner der grüngefärbten Viertel, die ihn feuern wollten, setzen sich zusammen aus reichen Schnöseln (Pacific Heights, Marina, Seacliff) und asiatischer Arbeiterklasse (Sunset, Richmond, Excelsior), was aufgrund der höheren Bevölkerungszahl den Ausschlag gab.
In seiner Abtrittsrede schob Boudin die Schuld auf reiche Republikaner, die den Recall mit dreimal soviel Geld finanziert hätten wie seine eigenen Anhänger. Dass er schlicht eine Fehlbesetzung für den Job des Staatsanwalts war, kam ihm nicht in den Sinn. Denn verliert man heutzutage eine Wahl, sucht man nicht die Schuld bei sich selbst. Schließlich hat man die Wahrheit gepachtet und alle anderen sind Betrüger oder schlicht irre. Schon erstaunlich, dass demokratische Prinzipien bei der Generation "Ich!-Ich!-Ich!" gar nicht mehr gefragt sind, egal ob links oder rechts.
Der Recall fand ein überraschend breites Presseecho, und obwohl es nur eine Stadtwahl war, berichteten überregionale Nachrichtensender wie CNN oder auch die große Tageszeitung New York Times ausführlich darüber. Sie alle wollten einen politischen Trend im Ergebnis erkennen. Die Zeitschrift "The Atlantic" brachte gar einen Zehnseiter mit dem Titel "How San Francisco Became a Failed City", geschrieben von einer in San Francisco aufgewachsenen Schriftstellerin, die den Niedergang der ihr einst so geliebten Stadt protokollierte. Lesenswert!
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