09.05.1998   Deutsch English

  Rundbrief Nummer 8  
San Francisco, den 09.05.1998


Soziale Einrichtungen in Kalifornien

(Angelika) Ansonsten bin ich dieses Semester meinem Ziel, das Fortbildungszertifikat "Kinder und die sich verändernde Familie" an der Universität Berkeley zu erhalten, wieder ein gutes Stück näher gekommen. Ich habe dieses Semester vier Kurse belegt, so dass ich ganz gut mit Arbeit eingedeckt war und bin. Zwei der Kurse haben mir ganz besonders gefallen und viel gebracht. Der eine war über sogenannte "Stepfamilies" und der andere über die sozialen Dienste, die es in Kalifornien für Familien mit Kindern gibt. Der Begriff "Stieffamilie" ("Stepfamily") hört sich für deutsche Ohren vielleicht etwas negativ an, gemeint ist einfach, dass Kinder aus verschiedenen Ehen oder Beziehungen unter einem Dach leben, weil die leiblichen Eltern sich scheiden lassen oder getrennt haben. Da in den USA bekanntlich jede zweite Ehe geschieden wird, ist das ein brandaktuelles Thema. Die Frau, die den Kurs geleitet hat, ist Familientherapeutin und selber aus einer "Stepfamily". Darüber hinaus war sie viermal verheiratet und hat somit eigene Kinder und "Stepchildren" großgezogen. In dem Kurs ging es vor allem darum, zu lernen, durch welche normalen Phasen diese neue Familie geht und wie man sie dabei professionell unterstützen kann, dass das Zusammenleben erleichert wird. In den USA gibt es schon sehr viel Forschungsergebnisse zu diesem Thema und die Kursleiterin gilt als eine Expertin diesbezüglich. Was so viel Spaß gemacht hat, war, dass diese Frau nicht nur eine hervorragende Didaktin war, sondern auch mit viel Elan und Überzeugung das Thema rübergebracht hat. Wir haben trotz des ja eigentlich ernsten Themas viel gelacht und bei mir ist ganz viel hängengeblieben, was ich für meine eigene Arbeit mitnehmen kann. Ich finde übrigens, dass dieses Thema in Deutschland noch viel zu wenig berücksichtigt wird, schließlich sind die Scheidungsraten in Deutschland ja auch nicht unbedingt geringer als hier.

Der Kurs über die sozialen Dienste in Kalifornien hat mir einen guten Überblick verschafft, was es für Hilfsangebote für Familien in Kalifornien gibt. Was es hier so schwierig macht, den Überblick zu behalten, ist, dass es zwar wie bei uns auch Bundesgesetze (die in der ganzen USA gültig sind) gibt, die ganz allgemeine soziale Hilfsprogramme regeln, dass aber jeder Bundesstaat (z.B. Kalifornien) und dann noch wieder jede Gemeinde (z.B. der County San Francisco) eigene Programme durchführt. Teil des Problems ist, dass die Bundesgesetze nur Minimalvorgaben machen und diese vielen Bundesstaaten nicht ausreichend sind. Vor allen Dingen gilt dies für Bundesstaaten, die als sozialer eingestellt gelten. Kalifornien gehört zu diesen liberaleren Bundesstaaten. Hinzukommt, dass Kalifornien ein reicher Bundesstaat ist und so bereit ist, mehr für die sozial Schwächeren auszugeben. Allerdings wird auch in Kalifornien an allen Ecken gestrichen und gespart, so dass viele effektive und präventive Programme nicht mehr finanziert werden. Für diesen Kurs mussten wir übrigens sehr sinnvolle "Assignments" ("Hausaufgaben") machen. Da es ja darum ging, möglichst viel über die verschiedenen sozialen Einrichtungen zu lernen, mussten wir z.B. Informationen einholen über Einrichtungen in der Nachbarschaft, in der wir arbeiten oder wohnen. Ein anderes Mal haben wir ein Fallbeispiel bekommen, in dem eine Mutter mit drei Kindern obdachlos war. Wir mussten herausbekommen, welche Hilfsangebote es für diese Familie in San Francisco gibt. Dabei reichte es nicht, verschiedene Einrichtungen aufzulisten, sondern wir mussten die einzelnen Institutionen anrufen und detailierte Fragen stellen, z.B. wie lang die Wartezeit ist, um einen Platz in einem Obdachlosenasyl zu bekommen. Zunächst war ich ja skeptisch, dass die entsprechenden Institutionen sich überhaupt die Zeit nehmen würden, meine Fragen zu beantworten. Ich habe aber durchweg positive Erfahrungen gemacht. Die Leute waren immer ganz begeistert, dass ich so einen Kurs als Ausländerin belege und haben geduldig alle Fragen beantwortet. Eine super Lernerfahrung. Die Abschlussarbeit habe ich dann über öffentliche Sondererziehung ("public special education") in den USA geschrieben, also Erziehung für die Kinder, die aus den unterschiedlichsten Gründen besondere Erziehungsbedürfnisse (z.B. Kinder mit Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten) haben. Und da viele von euch in Deutschland in diesem Bereich arbeiten, will ich schnell ein paar Informationen diesbezüglich anführen. "Special education" ist in den USA durch ein Gesetz von 1975 geregelt, das zusammengefasst auf dem Prinzip beruht: "Nicht mehr speziell als nötig". Es gibt nun die unterschiedlichsten Modelle, diese Kinder zu fördern. So werden einige Vollzeit in der Regelklasse unterrichtet und erhalten zusätzlich Therapien (z.B. Sprachtherapie), andere werden nur stundenweise in die Regelklasse integriert und erhalten den Rest der Zeit speziellen Unterricht in einem anderen Klassenraum mit einem Sonderschullehrer, wieder andere erhalten den ganzen Tag Unterricht in einer Sonderklasse, die aber im Schulgebäude der Regelschule ist. Schließlich gibt es private Schulen für diese Kinder, die etwa unseren Sonderschulen entsprechen. Obwohl diese Schulen privat sind, regelt das Gesetz, dass die öffentliche Hand die Kosten für das Unterrichten der entsprechenden Kinder finanzieren muss, wenn die Aufnahme in eine solche Institution notwendig ist. Zusammengefasst kann man also sagen, dass das Ziel Integration ist. Ob ein Kind eine spezielle Erziehung erhält, entscheidet ein multidisziplinäres Team der Schulbehörde. Das Gesetz hört sich eigentlich ganz vielversprechend an. Leider hat sich keiner überlegt, wer die enormen Kosten aufbringt, die nötig wären, um dieses Gesetz vernünftig umzusetzen. So sieht es in der Praxis bezüglich der Integration dieser Kinder nicht so rosig aus. Es fehlen gut ausgebildete Lehrer und die Qualität der Förderung hängt wiederum sehr vom einzelnen Bundesstaat ab.

Ich habe übrigens fest vor, noch einmal in einer Sonderklasse oder -einrichtung ehrenamtlich zu arbeiten, einfach damit ich noch einen besseren Einblick bekomme. So, nun genug von meinen Kursen. Nur noch soviel: Nächstes Semester habe ich wieder vier belegt. Allerdings ist diesmal auch wieder ein Fotografiekurs dabei. Ihr seht, Langeweile kommt nicht auf. Schließlich gehe ich auch weiterhin zweimal die Woche in die "Childcare"-Einrichtung ins Tenderloin.

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