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Angelika/Mike Schilli |
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Wem's zu langweilig wird, der kann sich die riesigen Werbetafeln ansehen, die am Rand der Autobahn aufgereiht sind. Dort preisen Computerfirmen wie Oracle, Microsoft oder auch mal eine Bekleidungskette wie Gap ihre Produkte an! Auch denken sich die Verkehrsplaner die verrücktesten Dinge aus, um den Verkehr zu zügeln: Zum Beispiel Ampeln an den Highway-Auffahrten, die genau für eine Sekunde grün sind und dann gleich wieder auf Rot umschalten. So fährt nur alle 10 Sekunden ein Auto auf, das die konstant auf dem Highway vorwärtsrollende Blechlawine schnell wegschluckt und keiner deswegen bremsen muss. Deswegen wartet man zwar an der Einfahrt recht lang, aber sobald man auf dem Highway ist, rollt's dahin. Theoretisch wenigstens.
Auch die Car-Pool-Lanes habe ich schon einmal erwähnt: Auf der linkesten Spur dürfen zu den Stoßzeiten nur Autos mit zwei oder mehr Insassen (manchmal ist die Grenze sogar drei) fahren, so ermutigt der Staat die Leute, Fahrgemeinschaften zu finden. Auch ein Kind im Kindersitz zählt übrigens als Beifahrer. Eine schwangere Frau hat sogar einmal versucht, vor dem obersten kalifornischen Gericht durchzusetzen, dass sie als zwei Personen zählte -- scheiterte damit allerdings.
Aber auch die Car-Pool-Lane ist in den Morgenstunden dicht. Statt mich sinnlos aufzuregen, schwinge ich mich -- wie schon einmal in einem früheren Rundbrief angedeutet -- deswegen gerne aufs Fahrrad, um mit dem Zug zur Arbeit zu fahren.
Jeden Morgen bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof San Francisco sagt der Schaffner über Lautsprecher durch, dass 1) das Rauchen nicht erlaubt ist (in Kalifornien darf man eh nirgendwo rauchen, außer auf der Straße), 2) man die Schuhe nicht auf die Sitze legen darf (für Amerikaner echt eine Zumutung, weil die ihre Füße überall drauflegen, manche legen sogar ihre Füße bei Meetings auf den Konferenztisch!), und 3) die Sitze nicht verstellen soll. Diese haben Lehnen, die es scheinbar erlauben, sie zur oder gegen die Fahrtrichtung einzustellen -- versucht man es aber, verkeilt sich die Lehne fürchterlich und bleibt auf halben Weg stecken, sodass der Sitz unbrauchbar wird und der Waggon in die Wartung muss. Ich lache mich jedesmal halb tot, wenn wieder ein Ami, der noch nie in seinem Leben Zug gefahren ist, es probiert und für den Rest der Fahrt versucht, die Lehne wieder zurückzustellen. Nie hat es irgendjemand geschafft, es ist aussichtslos. Auch wird man auf Bahnhöfen öfter mal von Leuten gefragt, ob man denn wisse, wo man die Fahrkarten kaufe? Es gibt Amerikaner in meinem Alter, die sind noch nie im Leben Zug gefahren. Und ich werde auch nicht jünger!
Der Schaffner merkt sich, wessen Fahrkarte er schon gelocht hat, indem er über den entsprechenden Sitz ein kleines Kärtchen hängt. Setzt man sich um, weil der Sitznachbar schnarcht oder nach Alkohol stinkt, muss man das Kärtchen mitnehmen und umstecken, sonst fragt der Schaffner wieder nach der Fahrkarte, wenn er das nächste Mal durchkommt. Warum merkt sich der deutsche Schaffner das übrigens nicht und rennt mit "Personalwechsel, die Fahrkarten bitte?" durch? Übrigens ist das Umsetzen ein typisch amerikanisches Phänomen, das ich noch nirgends in der Literatur beschrieben fand und das ich deswegen heute ausführen will: Die Leute setzen sich hier im Bus oder in der Straßenbahn oder im Zug unvermittelt um. Steht in Deutschland der Sitznachbar auf und setzt sich drei Reihen vor, denkt man "Hab ich gestern Knoblauch gegessen oder was?". Ich habe mich in München öfter dabei beobachtet, dass ich selbst auf Sitzen ausgeharrt habe, obwohl es gezogen oder gestunken oder die Sonne geblendet hat -- nur um dem Sitznachbarn nicht zu beleidigen. Hier ist es durchaus keine Seltenheit, dass sich die Leute dreimal umsetzen, wenn sie zehn Haltestellen fahren. Geheimnisvolles Amerika! Im Rundbrief lest ihr es zuerst!
Fahrten zur Arbeit kann man in Amerika übrigens als Angestellter nicht von der Steuer absetzen. Wer weit weg von der Arbeit wohnt, ist selber schuld. Netscape zahlt aber jedem Mitarbeiter 30 Dollar im Monat, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fährt. Man kriegt einen Scheck, den nur die Bahn, Bus und U-Bahnbetreiber annehmen. Das deckt die Kosten zwar nur zu etwa einem Viertel, aber es ist zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Außerdem bietet Netscape ein Shuttle (einen eigenen Bus) an, das die Leute von der Bahnstation abholt und zur Arbeit fährt. In Mountain View fahren am Morgen private Busse vor, auf denen "Netscape", "Microsoft" oder "Hewlett Packard" steht. Die öffentlichen Verkehrsmittel kann man im Silicon Valley vergessen, ich habe noch nirgendwo einen Bus gesehen, der irgendwo hinfuhr, wo ich auch gerade hinwollte. In den Microsoft-Bus würde ich natürlich niemals einsteigen, lieber ginge ich selbst bei sintflutartigem Regen die drei Kilometer zu Netscape zu Fuß.
Die einfache Fahrt von San Francisco nach Mountain View kostet vier Dollar. Wenn der Bahnhof einen Fahrkartenschalter hat, man die Karte aber aus Faulheit beim Schaffner im Zug kauft, kostet's einen Dollar mehr. In Deutschland ist das ganz normal. Aber wer meint, ein Amerikaner würde das hinnehmen, täuscht sich: Verlangt der Schaffner den Extra-Dollar und erklärt auch noch höflich, warum das so ist, gibt es regelmäßig Leute, die sich aufführen wie Rotz und Feuer und langwierige Diskussionen anfangen! Manche Schaffner verlangen den zusätzlichen Dollar einfach nicht mehr, weil das bei der Abrechnung am Abend eh nicht auffällt, schließlich könnte der Passagier genausogut an einem Bahnhof ohne Schalter eingestiegen sein. Es gibt zwischen San Francisco und dem 90 Kilometer weiter südlich gelegenen San Jose gerade mal drei Stationen mit Fahrkartenschaltern! Wie man hört, sollen bald Fahrkartenautomaten eingeführt werden! Wunder der Technik!
Übrigens wird niemandem zugemutet, sich mit irgendwelchen wirren Zonensystemen herumzuschlagen. In Abbildung 6 seht ihr die Zehnerkarte (kostet 34 Dollar, 15% gespart!) die "Zone 4" anzeigt. Aber das ist nur für den Schaffner, kein Passagier wüsste das. Vielmehr sagt man am Schalter, wohin man will. Auch in der U-Bahn ist das hier simpel: Man zahlt innerhalb der ganzen Stadt eh den gleichen Preis ($1.10), und will man in die Außenbezirke, steht an jedem Ticketautomat, wieviel das wohin kostet. Niemandem wird die Abstraktion abverlangt, sich in irgendwelche komplizierten Waben- oder Zonensysteme hineinzuversetzen.
Sein Fahrrad in den Zug mitzunehmen, ist, wie ich schon einmal geschrieben habe, oft eine Verdrussquelle sondergleichen, besonders wenn der Fahrradwaggon voll ist, man nicht mehr mit darf und eine halbe oder ganze Stunde auf den nächsten Zug warten muss. Manche Schaffner erlauben auch mehr als die maximal zusätzliche Anzahl von Fahrrädern an Bord, dann gibt's keine Probleme. Wenn aber einer streng ist und die Leute draußen stehen lässt, wird er von den Fahrradfahrern zur Sau gemacht. Es ist hier in Kalifornien einfach üblich, auch einmal Fünfe gerade sein zu lassen, wenn es die Situation erfordert. Wer sich blind an doofe Regeln hält, gilt als Depp. Ich erinnere mich noch genau an München, wo es Vorschrift ist, dass Linienbusse "Kontakt" zum Haltestellenschild haben müssen, also nicht vorher halten dürfen. Hier in San Francisco kommt ein Bus je nach Verkehrssituation auch mal weit vor der Haltestelle zum Stehen und dann geht man halt schnell zwischen den Autos durch, um einzusteigen, alles kein Problem. Neulich hat mal ein Busfahrer die Türe nicht vorher aufgemacht, als der Verkehr zum Halten kam und ist erst bis zum Haltestellenschild gefahren. Die Leute kriegten sich gar nicht mehr ein mit dem Lästern!
Übrigens nennt man jemanden, der alles supergenau nimmt, wie ich schonmal geschrieben habe, einen "Nazi". Das erste Mal habe ich das in der Fernsehshow "Seinfeld" gehört, wo es um einen Suppenverkäufer ging, der immer die Leute schikanierte und im Jargon "Soup-Nazi" hieß. Als sich jemand aus der Seinfeld-Truppe nicht an seine recht willkürlichen Spielregeln hielt, verkaufte er demjenigen einfach keine Suppe schrie mit argentinischem Akzent: "No Soup for you! Come back next year!". Aber die Suppe war so gut, dass die Leute scharenweise kamen und sich schikanieren ließen. I bin a Boda gläga!
Viele Leute tippen während der Zugfahrt auf ihren Laptop-Computern herum, das ist okay. Aber es wird zu meinem Leidwesen zuviel telefoniert. Ich habe gehört, dass auch in Deutschland mittlerweile jeder ein Mobiltelefon hat. Ich habe auch eines, weil's praktisch ist, wenn mein Fahrrad einen Platten hat oder ich den letzten Bus verpasse. Aber ich würde nie auf die Idee kommen, im Zug zu telefonieren, wo jeder mithören kann, was ich sage! Ich weiß nicht, woran es liegt, aber wenn einer neben mir telefoniert, nervt mich das mehr, als wenn er sich mit seinem Nachbarn unterhält. Wohl weil das Protokoll so vorhersagbar ist: "Hallo, hier ist ...!" ... "Gut, und dir?" ... "Hey, ich bin im Caltrain!" ... "So, ich muss mal Schluss machen!" ... Arrrgh! In mobiltelefonfreien Waggons wäre ich Stammgast! Übrigens gehen hier mehr und mehr feine Restaurants dazu über, auf der Speisekarte darauf hinzuweisen, dass a) das Rauchen und b) das Klingelnlassen von Mobiltelefonen unzulässig ist.
In Mountain View habe ich in jahrelanger Pionierarbeit einen Weg vom Bahnhof zu Netscape auskundschaftet, der über Brücken geht, auf denen nur Fahrräder fahren dürfen und der durch Parks führt, anstatt den verstopften Hauptverkehrsstraßen zu folgen. Anfangs hatte ich mich bei in Mountain View ansässigen Kollegen erkundigt, ob es eine derartige Strecke gäbe, bekam aber abschlägige Antwort, da niemand in Mountain View mit dem Rad fährt oder zu Fuß geht. Im Vorstadt-Amerika fährt man vielmehr selbst zum Semmelholen mit dem Auto, auch wenn der Supermarkt nur 100m von zu Hause weg ist. In der Gegend um Los Angeles führt das übrigens dazu, dass die Polizei teilweise Fußgänger stoppt und kontrolliert, da kein "normaler" Mensch zu Fuß geht. Das hat zur Folge, dass die Einheimischen zwar jeden Auto-Schleichweg kennen, der über drei Autobahnen führt, auf die man kurz auf- und dann gleich wieder abfährt, aber nichts von Strecken durch Parks wissen, durch die man mit dem Fahrrad wie der Blitz sausen kann. Im Gegensatz dazu steht in Mountain View glaube ich die langsamste Verkehrsampel der Nordhalbkugel. An der Kreuzung Central Express Way und Moffett Boulevard braucht sie sicher fünf Minuten zum Umschalten!
Aber in Mountain View gibt es tatsächlich eine Fahrradbrücke, die über die Autobahn führt (Abbildung 9). Im Winter ist es dort übrigens schon um 6 Uhr abends stockdunkel, und in dem Park, durch den ich nach Arbeitsende fahre, brennt nirgendwo Licht. Mein Fahrrad hat nur ein Blinklicht, mit dem man zwar gesehen wird, das selbst aber nicht den Weg beleuchtet. Die Folge ist ein 1.5 km langer Blindflug durch den Park und jedes Rascheln im Gebüsch lässt mich schneller in die Pedale treten. Das peitscht auf, da würde ich für nichts und niemanden anhalten!
Außerdem darf man nicht an Hydranten parken, irgendwie achteinhalb Fuß oder so muss man Abstand halten. Damals, als ich den kalifornischen Führerschein erwarb, musste ich das auswendig lernen, mittlerweile weiß ich das natürlich nicht mehr. Das erinnert mich immer an einen alten Film mit den Marx-Brothers, in dem der Groucho Marx einen aufblasbaren Hydranten im Auto hatte, den er bei Bedarf auf den Gehsteig stellte und an dieser Stelle parkende Autofahrer verscheuchte. Vor Kreuzungen gibt's auch irgendeine Regel, aber die wird nicht so ernst genommen. Es gilt vielmehr: Was niemandem direkt schadet, wird auch nicht bestraft. In Deutschland erhielt ich mal einen Strafzettel, weil ich gegen die Fahrtrichtung geparkt hatte -- hier interessiert niemanden, wie rum das Auto steht. Wichtig auf steilen Straßen ist, dass man die Räder so einschlägt, dass das Auto, falls der Gang rausrutscht und die Handbremse versagt, gegen den Randstein rollt und dort stoppt. Macht man das nicht, kriegt man einen Strafzettel, weil es wohl schon schwere Unfälle gab, als alterschwache Autos sich selbständig machten und die Berge herunterdonnerten. Angelika schimpft mich immer, wenn ich die Räder nur sanft einschlage und nicht, wie die Dame es wünscht, so, dass sie halb aus der Verankerung herauskullern. Mein Traum ist es aber, einmal einen solchen Strafzettel zu bekommen, den rahme ich mir dann ein und hänge ihn im Klo auf.
Ein aktueller Nachtrag: Neulich wollte ich in der Früh ins Büro fahren, ging hinüber zur 23. Straße, wo unser Auto geparkt war und traute meinen Augen nicht: Bei 30% Steigung stand da ein schwarzer Acura Integra quer auf dem Gehsteig, direkt vor einer Garage. Und das Nummernschild war "PERL MAN"! Eine ungefähr hundertjährige Frau turnte aufgeregt darum herum und ein jüngerer Herr, der deswegen nicht mehr aus seiner Garage herauskam, hatte gerade den Abschleppdienst angerufen. Es stellte sich heraus, dass die Frau beim Einparken mit ihrem tonnenschweren 60er-Jahre Oldsmobile von oben gegen unser Auto gebumst war, worauf dieses sich selbständig machte und trotz angezogener Handbremse und eingelegtem Gang den Berg hinunterkullerte. Dank vorschriftsmäßig Richtung Randstein eingeschlagener Räder (Angelika hatte geparkt) hüpfte es nur den Randstein hinauf und kam kurz vor der Garage zum Stehen. Die Frau hatte freundlicherweise schon einen Zettel hinter meinen Scheibenwischer geklemmt: "Please ring 647-92.. -- will explain" ("Bitte anrufen (Telefonnummer). Werde erklären."). Na, auf diese Erklärung wäre ich ja gespannt gewesen. Zum Glück kam ich aber gerade vorbei, stellte fest, dass am Auto nichts weiter passiert war (kleinere Schrammen zählen in Amerika nicht), worauf die Frau sich mit "Thank you for being so nice" bedankte, der Garagenmann schnell den Abschleppwagen abbestellte, ich das Auto vom Gehsteig fuhr und ganz normal nach Mountain View in die Arbeit abzischte. In der ganzen Aufregung vergaß ich leider, die Szene zu fotografieren. Sachen erlebt man in dieser Stadt!
Die 22. Straße ist mit 31.5% allerdings so steil, dass dort kein Kehrauto fahren kann. Und der Müll kullert von alleine den Berg runter. Deswegen kann man dort immer parken. Allerdings steht das Auto dort so schief, dass es bei Erdbeben wahrscheinlich herunterfällt. Fährt man für eine Woche in Urlaub, muss man jemanden finden, der einem das Auto umparkt.
Da das Auto oft fünf Gehminuten vom Haus steht, vergesse ich gern, wo es genau ist. Wer kam nochmal zuletzt mit dem Auto heim und wann? Wo ist der Parkplatz diesmal? Deswegen hat Angelika mal alle Straßen der Nachbarschaft abgeklappert, sich die jeweiligen Reinigungszeiten aufgeschrieben und daraus von Hand einen schönen Plan gefertigt, der bei uns an der Tür hängt. Eine überdimensional große Reißzwecke zeigt immer an, wo das Auto gerade steht und ob heute dort die Kehrmaschine vorbeikommt.
Ich bellte der Frau ein paar selbst für amerikanische Verhältnisse (siehe den vorvorletzten Rundbrief zur Redefreiheit) schockierende Wörter ins Gesicht und rannte weiter, um wenig später festzustellen, dass ich tatsächlich blutete! Zum Glück war die Tetanus-Impfung, die ich vor sechs Jahren in München erhalten hatte, noch gut genug. Lustigerweise hatte es einige Wochen vorher in San Francisco einen etwas tragischeren Vorfall mit einem Kampfhund gegeben: In einem Hochhaus hatte ein angeleinter Kampfköter nach dem Hals einer Nachbarin geschnappt und diese getötet! Die beiden Halter wurden daraufhin auf "versuchten Mord" bzw. "Totschlag" angeklagt, weil sie das Vieh angeblich so dressiert hatten. Ich hätte aus der dummen Kuh mit dem unangeleinten Hund sicher Millionen herausholen können, aber ich bin ja großzügig und verklage keine geistig zurückgebliebenen Menschen.
Allgemein gesprochen haben Hundebesitzer schon einen leichten Hau. Kackt der Hund auf den Gehsteig, muss der Besitzer den Kackematz sofort wegräumen, sonst hagelt es Geldstrafen. Die Leute stülpen hierzu eine mitgebrachte durchsichtige Rascheltüte über die Hand, greifen in die -- ich spekuliere mal -- noch körperwarmen Lehmstangen, ziehen dann die Tüte wie einen Handschuh aus und wickeln sie so um den braunen Riesen. Naja, wer's mag. Das hat natürlich den Vorteil, dass man in Amerika glücklicherweise recht selten in Hundehaufen tritt -- ich hatte in viereinhalb Jahren bisher nur einmal einen stinkenden Klumpen am Fuß. Aber das ist noch nicht alles zum Thema "Hunde". Angelika, übernehmen Sie!
Angelika: Nicht erst seit Michael von einem Hund gebissen wurde, beobachte ich die Hundeepidemie in San Francisco mit Argwohn. Bisher hielt ich mich allerdings mit meinen Kommentaren zurück, dachte ich doch, dass ich unter selektiver Wahrnehmung leide. Ich habe schlichtweg Angst vor Hunden. Auch Hundebesitzer sind mir nicht geheuer, denn die meinen stets, ihr Fiffi sei der Friedfertigste. Da kann der Hasso noch so zähnefletschend an der Leine zerren. Ich gehöre zu den Menschen, die des öfteren die Straßenseite wechseln, nur um mich in einer "hundefreien" Zone zu bewegen. Das wird in San Francisco immer schwieriger. Am Wochenende die 24. Straße in unserem Viertel "Noe Valley" (oder heißt es vielleicht doch schon "Dog Valley"?) hochzugehen, ist kein einfaches Unterfangen für einen Hundephobiker wie mich. Alle drei Meter (ich übertreibe nicht) stolpert man über einen Hund, der von einer Menschentraube umgeben ist: "Ach ist der aber schön!" "Wie heißt er denn?" "Darf ich ihn streicheln?" Viele Geschäftsinhaber haben ihren Hund auch während des Tages bei sich. Ein Alptraum für Menschen wie mich, die gerne einkaufen, aber jedem Hund am liebsten aus dem Weg gehen. Deshalb betrete ich die neue Boutique in der 24. Straße mit dem Namen "A Girl and Her Dog" auch nicht. Die verkaufen zwar sehr schöne Klamotten, aber, ihr habt es erraten, ich müsste mich auch mit dem Hund der Ladenbesitzerin auseinander setzen. Ein paar Häuser weiter findet man bei "Tully's", einem kleinem Straßenkaffee, einen mit Wasser gefüllten Hundenapf und den freundlichen Hinweis, dass man drinnen im Kaffee kleine Leckereien für Vierbeiner bereit hält.
San Francisco liebt seine Hunde. Ich stehe mit dieser Beobachtung nicht mehr alleine da. Erst im Mai las ich einen Artikel im Magazin des "San Francisco Chronicle" (Tageszeitung in San Francisco), der ausführlich über diese "Affenliebe" berichtete und die Frage aufwarf, wann es zur Vermenschlichung von Hunden kam. Der Hund als des Menschen bester Freund ist nicht gerade ein neues Konzept, aber die Serviceleistungen für Hunde und gestresste Hundebesitzer, die in San Francisco und Umgebung wie Pilze aus der Erde sprießen, sind es schon. Ich spreche hier nicht von den traditionellen Hundepensionen, die sich um den geliebten Vierbeiner kümmern, wenn Frauchen und Herrchen im Urlaub sind. Auch an die vielen professionellen Gassigeher, die man daran erkennt, dass sie stets eine Traube von Hunden umgibt (was mich immer an den Rattenfänger von Hameln erinnert) habe ich mich längst gewöhnt. Die neuste Einrichtung sind Tageseinrichtungen für den Hund, "Doggie Day Care" genannt. Da Amerikaner -- und Angestellte des Silicon Valleys insbesondere -- bekanntlich viel arbeiten, bleibt des Menschen bester Freund oft für viele Stunden allein zu Haus. Da meldet sich das schlechte Gewissen des Hundebesitzers. Die Lösung: Man bringt seinen Hund in den Kindergarten. Glaubt jetzt nicht, dass ich spinne. Die "Doggie Day Cares" haben tatsächlich viel mit einem Kindergarten gemein. Es gibt Spielzeug, Sofas zum Ausruhen und oft einen spielplatzähnlichen Außenbereich. Man geht dort spazieren, kämmt, streichelt und trainiert die Hunde und feiert, wenn es sein muss, auch noch den Hundegeburtstag. Zwingerähnliche Gebilde sind natürlich absolut tabu, denn die Hunde sollen miteinander agieren. Einige "Doggie Day Cares" installieren sogar Web-Kameras, so dass der arbeitende Hundebesitzer jederzeit vom Büro aus via Internet überprüfen kann, wie es seinem Vierbeiner geht. Billig sind die "Doggie Day Cares" allerdings nicht. "Every Dog Has Its Day Care Inc." verlangt $395 monatlich, wenn der Hund für drei Monate angemeldet wird, $345 monatlich, wenn es sechs Monate sind (www.everydog.com). Bei "K9to5" (www.k9to5.com) in San Francisco kostet es für einen ausgewachsenen Hund $32 pro Tag, $300 für 10 Besuche oder $455 im Monat. Das Ganze ist mittlerweile so beliebt, dass es Wartelisten gibt. Natürlich wird auch nicht jeder Hund aufgenommen. Unsoziale oder gar aggressive Wesen werden ausgeschlossen. Hundebesitzer und Hund durchlaufen deshalb ein Aufnahmeverfahren. Es wird zum Vorstellungsgespräch geladen. Ich weiß das aus erster Hand, denn der Hund meiner Fotolehrerin wurde abgelehnt, weil er nicht in die Hundegruppe passte.
"Doggie Day Cares" erfreuen sich nicht nur in San Francisco und Umgebung größter Beliebtheit. Man findet sie auch anderswo in den USA. San Francisco beansprucht aber für sich, die Bewegung gestartet zu haben. Die private Organisation "San Francisco Society for the Prevention of Cruelty to Animals" (Gesellschaft zur Prävention von Grausamkeiten gegen Tiere"), die sich nur aus Spenden finanziert, startete nämlich 1994 das erste "Doggie Day Care" als Modellversuch. Diese tierliebende Gesellschaft (abgekürzt SPCA) ist für Hunde und Katzen der Himmel auf Erden. Setzt sie sich doch schon seit 1868 für die Rechte von Tieren in San Francisco ein. Heute sorgt die SPCA dafür, dass ausgesetzte, streunende oder vernachlässigte Tiere nicht getötet, sondern gesund gepflegt und resozialisiert werden, um wieder in Familien und nicht Tierheimen leben zu können. Auch Kampfhunde erhalten eine Chance. Seit 1997 gilt allerdings, dass Pit Bulls getötet werden, wenn ihre Vergangenheit nicht bekannt ist. Die SPCA eröffnete 1998 übrigens ein Tierheim, das nach ihrer eigenen Beschreibung dem Ritz (Hotel) ähnelt (www.sfspca.org/maddies.html). Hunde und Katzen verfügen über eigene Zimmer mit Parkettboden, Sofas, Aquarien, Spielzeug und Fernseher. Gerüchtehalber bot das Tierheim Obdachlosen vor einiger Zeit an, bei den Tieren unterzukommen, was die Obdachlosen aber Gott sei Dank empört ablehnten. Manchmal wundert man sich schon, was es so alles gibt.
Zum Schluss noch zwei topaktuelle Geschichten rund um den Hund. Am Dienstag befanden in San Jose zwölf Geschworene Andrew Douglas Burnett (in Amerika werden die Namen von Angeklagten ganz frech in der Zeitung veröffentlicht) der Tierquälerei für schuldig, was bis zu drei Jahre Gefängnis für ihn bedeuten kann. Er zerrte nach einem Auffahrunfall in seiner Wut den Hund der Frau, die den Unfall verschuldete, aus ihrem Auto und schmiss ihn in den fließenden Verkehr, was der Hund nicht überlebte. Nicht dass mir jetzt alle Tierschützer aufs Dach steigen. Natürlich finde ich solch ein Verhalten falsch und es ist richtig, dass er sich dafür verantworten muss. Berichten wollte ich nur, welchen Wirbel dieser Fall verursachte. Tierschützer sammelten in kürzester Zeit $120.000, damit der Tatverdächtige auch angemessen verurteilt wird (Gerichtsverfahren in Amerika sind teuer), was Kritik hervorrief, weil die Summe weit höher war als die ausgesetzten Belohnungen für mehrere offene Fälle von vermissten Kindern zusammen. Einige meinten, dass die Prioritäten hier etwas schiefliegen. Auch erzürnten sich viele darüber, dass die Hundebesitzerin vor laufender Kamera von ihrem Kind/Baby sprach, das brutal ermordet wurde. Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Sie meinte ihren Hund.
Ebenfalls am Dienstag griffen auf der anderen Seite der Bucht in Richmond drei frei herumlaufende Kampfhunde einen zehnjährigen Jungen an, der gerade mit seinem neuen Fahrrad spazieren fuhr. Die Hunde richteten den Jungen so zu, dass er sich immer noch im kritischen Zustand befindet. Er hat nicht nur seine beiden Ohren verloren, sondern auch tiefe Fleischwunden im Gesicht, so dass es Jahre dauern wird, bis sein Gesicht vollständig wiederhergestellt ist. Besonders schockierte mich, dass es in dem Stadtviertel, in dem die Hunde den Jungen angriffen, ganz normal ist, dass Kampfhunde herumstreunen. Dieser und einige andere Vorfälle eröffneten eine Kampfhunddebatte, die ihr in Deutschland schon vor einiger Zeit geführt habt. Hüben wie drüben werden natürlich die gleichen Argumente aufgetischt: Dass eigentlich die Besitzer das Problem sind bzw. die Züchter, die aggressivste Hunderassen heranzüchten. Ich frage mich nun aber, was um alles in der Welt in den Köpfen von Hundeliebhabern vorgeht, für die es nichts Schöneres gibt, als einen Kampfhund zu besitzen? Warum tut es nicht ein friedliebender Bernhardiner? Normal ist das nicht!
Auch bin ich häufig Gast in der Straßenbahn "J", denn diese bringt mich von der Stadt aus in die Church Street, wo wir wohnen. Spannend wird es immer dann, wenn Schulschluss ist und die Schüler von der "Mission High", am Dolores Park zusteigen. Der Ruf dieser "High School" (amerikanische Gesamtschule) lässt schwer zu wünschen übrig und ich bedauere schon oft die Lehrer, wenn ich das Verhalten der Schüler beobachte, obwohl ich diesbezüglich durch meinen Beruf bedingt nicht gerade empfindlich bin. Neulich staunte ich nicht schlecht, als plötzlich einige Mädels dieser Schule, die so 13 oder 14 Jahre alt waren, mit lebensgroßen Babypuppen im Arm die Straßenbahn betraten. Da Amerikaner ja bekanntlich gerne Konversation betreiben, musste ich nicht lange warten, bis der erste die Mädels fragte, was es denn mit den Puppen auf sich hätte. Es stellte sich heraus, dass das "Babypuppenprojekt" eine Art von Sexualkundeunterricht ist. Die Mädchen (ich sah keinen Jungen mit Babypuppe bewaffnet) bekommen die Puppen übers Wochenende mit nach Hause. Hausaufgabe ist, sich um das "Baby" zu kümmern. Um das Ganze realitätsnaher zu gestalten, wurde den Puppen ein Computerchip eingebaut, der die Puppe in unregelmäßigen Abständen für längere Zeit schreien lässt (natürlich auch nachts). Dank der Technik schreit das "Baby" auch dann los, wenn es ungalant gehalten wird, beispielsweise mit dem Kopf nach unten. Füttern kann man die Puppe allerdings nicht und auch die Windeln bleiben sauber. Die Mädchen führen während des Wochenendes ein Tagebuch. Sie schreiben nieder, was sie fühlen, wenn ihr Baby schreit. Einer der Fahrgäste stellte dann die pädagogisch wertvolle Frage an eines der Mädchen, was sie denn daraus lernen sollen. Sie bekam die Antwort: "Mehr Verantwortung zu übernehmen!" FALSCH! Das Schreien der Babys soll im Idealfall die Mädchen so nerven, dass sie auf lange Zeit dem Sex widerstehen und nicht schwanger werden. Ich hatte ja gleich das Gefühl, dass das Babyprojekt nicht der richtige Weg ist, um die hohe Anzahl vom Teenager-Schwangerschaften in den USA zu drosseln. Zäumt man das Pferd bei dieser Sache doch von hinten auf, was bekanntlich nicht funktioniert.
Und nun noch eine kleine Geschichte, die die Kontrolleure der Münchner Verkehrsbetriebe aufhorchen lässt. Wir haben ja schon öfter erwähnt, dass die Muni (ihr erinnert euch, das sind die Verkehrsbetriebe in San Francisco) nicht gerade super zuverlässig ist. Seit geraumer Zeit versucht alles, was Rang und Namen hat, die Muni zu verbessern. Und ich gestehe, dass es nicht mehr ganz so schlimm ist, wie es schon einmal war. Es gibt zwar noch immer keinen richtigen Fahrplan für Busse und Straßenbahnen, aber die Wartezeiten haben sich etwas verkürzt. Im Zuge dieser Neuerungen führte man vor etwa sechs Monaten ein, dass die Fahrgäste, die über ein gültiges Ticket verfügen, an allen Türen von Bus oder Straßenbahn zusteigen dürfen. Als gültiges Ticket gilt die Monatskarte oder das sogenannte "Transfer", das man als Beleg beim Bezahlen erhält und zum eventuellen Umsteigen nutzt. Bis dato war es so, dass man nur beim Fahrer zusteigen durfte, dort bezahlte oder seine Monatskarte bzw. sein "Transfer" vorzeigte. Das Ein- und Aussteigen dauerte bei diesem Verfahren ewig. Da der Mensch ja bekanntlich ein Gewohnheitstier ist, bereitete man die neue Zusteigmethode auf lange Sicht vor. Es gab Broschüren, Lautsprecherdurchsagen und Hinweisschilder, denn dem Fahrgast musste eingehämmert werden, von nun an immer sein "Transfer" mit sich zu führen. Auch Kontrolleure braucht man von nun an, denn es könnte ja jemand einfach ohne Fahrkarte in den Bus oder die Straßenbahn springen. Das Konzept der Kontrolleure ist relativ ungewöhnlich in amerikanischen Städten mit öffentlichen Transportmitteln.
In der Regel hindert einen ein Drehkreuz oder ein Mensch beim Einsteigen daran, schwarz zu fahren. Kontrolleure scheinen dem Amerikaner suspekt zu sein. Sind sie doch autorisiert, die Freiheit des Einzelnen zu beschneiden und ein Bußgeld zu erheben. Die Kontrolleure tragen natürlich Uniform, damit sie gut zu erkennen sind. Sich in Zivil in den Bus zu schleichen; das würden die amerikanischen Fahrgäste als Zumutung empfinden. Ich wurde mittlerweile schon zweimal kontrolliert. Beim letzten Mal trug es sich doch zu, dass zwei Fahrgäste keine Fahrkarte vorzeigen konnten. Ich beobachte mit Spannung, was jetzt wohl passieren würde. Die Fahrgäste sprangen einfach zum Straßenbahnfahrer vor und bezahlten. Der Kontrolleur merkte nur höflich an, dass sie doch beim nächsten Mal bitte gleich beim Einsteigen zahlen sollten, damit es nicht zu Missverständnissen kommt und er ein Bußgeld erheben muss. Wow! Ich erinnere mich da an die Münchener Geschichte mit einem amerikanischen Touristen, der mit der S-Bahn vom Flughafen in die Stadt fuhr und vergaß, sein Ticket abzustempeln. Er wurde kontrolliert und musste das Bußgeld berappen, obwohl es sich offensichtlich um ein Versehen handelte. Manchmal zeigt sich San Francisco doch wirklich von seiner äußerst freundlichen Seite.
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