Angelika/Mike Schilli |
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Angelika Während die ganze Welt nach Südafrika schaute oder zitternd die Prognosen des Tintenfisch Pauls verfolgte, warteten hier in der Bay Area viele gespannt auf ein Spektakel ganz anderer Art: Das Urteil im Prozess gegen den U-Bahn-Polizisten Johannes Mehserle.
Eine recht traurige Geschichte, die die Gemüter erhitzte. Mehserle hatte in der Silvesternacht 2009 den 22-jährigen Oscar Grant erschossen. Grant war in einem BART-(Bay Area Rapid Transit)-Zug in einen Streit geraten und daraufhin von der BART-Polizei mit einigen seiner Freunde aus dem Zug beordert worden. Auf der Plattform der U-Bahnstation Fruitvale (Oakland) wurde Grant wurde dann verhaftet. Er lag schon mit dem Bauch auf dem Boden, als Mehserle seine Dienstpistole zückte und den ungewaffneten Grant erschoss. Passanten hatten den Vorgang mit ihren Handykameras aufgenommen und binnen Minuten kursierten die Videos im Internet. Mehserle behauptete nach dem Schuss, dass Grant sich der Verhaftung widersetzt habe. Mehserle habe ledlich seine Elektroschockpistole (=Taser) ziehen wollen, aber aus Versehen nach der Schusswaffe gegriffen.
Bei Grant handelte es sich übrigens um einen schwarzen jungen Mann und Mehserle, ihr ahnt es schon, ist weiß. Bevor ich jetzt wieder erboste Zuschriften bekomme, was die Hautfarbe denn dabei für eine Rolle spielt, kann ich nur unterstreichen, dass sie der entscheidende Faktor in dieser Geschichte ist. Grant starb wenige Stunden später in einem Krankenhaus und auf den Straßen von Oakland gab es die ersten gewalttätigen Proteste.
Viele protestierten gegen die Brutalität der Polizei, die häufig Minderheiten und besonders Schwarze ins Visier nimmt. Übrigens war Mehserle bei der BART (also der U-Bahn) als Polizist angestellt und nicht bei der Stadt Oakland. Viele, gerade schwarze Bürger, haben in Oakland ein sehr gespaltenes Verhältnis zur Polizei. In einigen Vierteln von Oakland regieren die Gangs und die Mörderrate ist hoch. Oakland rangiert in den Statistiken im oberen Drittel der gefährlichsten Städte der USA, wobei sich die Gewalttaten meist nur auf bestimmte Viertel konzentrieren.
Mehserle wurde des Mordes angeklagt. Die Anklage lautete auf "Second Degree Murder", also einen Mord im Affekt, der mit Freiheitsentzug von 15 Jahren bis lebenslänglich bestraft wird. Das ist erstaunlich, denn Polizisten, die jemanden im Einsatz erschießen, werden in den USA nur selten vor Gericht gestellt.
Die Gerichtsverhandlung verlegte man dann auch gleich vorsichtshalber nach Los Angeles, da befürchtet wurde, dass in Oakland keine neutrale Jury zu finden sei. Beim Auswählen der Geschworenen gab es gleich wieder Proteste, denn die Staatsanwälte und Anwälte ließen keinen Schwarzen bei der Juryauswahl zu. Ich finde diese Juryauswahl immer recht unlogisch, denn die Jury soll sich ja aus "Peers", also Mitbürgern zusammen setzen. Allerdings sind zum Beispiel bei einem Todesstrafenfall oft auch keine Todesstrafengegner in der Jury zugelassen, da sich die Jury nur um die objektive Urteilsfindung anhand belegbarer Tatsachen kümmern soll und nicht um das Strafmaß.
Der Richter ließ im Verlauf der Verhandlung neben der Mordanklage auch noch zwei weitere Anklagen zu: die des Totschlags ("voluntary manslaughter") mit einem Strafmaß von 3 bis 11 Jahren und die der fahrlässigen Tötung ("involuntary manslaughter"), die mit 2 bis 4 Jahre Gefängnis bestraft wird. In Kalifornien entscheidet die Jury nur, ob der Angeklagte der einzelnen Vergehen schuldig ist oder nicht. Der Richter legt dann später das Strafmaß fest.
Die Stadt Oakland machte sich auf jeden Fall auf Schlimmes gefasst, denn man befürchtete Auschreitungen wie im Falle Rodney Kings. Ihr erinnert euch vielleicht: Der schwarze Rodney King war 1992 in Los Angeles bei einer Verkehrskontrolle wegen Geschwindigkeitsüberschreitung brutal von vier weißen Polizisten zusammen geschlagen worden. Trotzdem ein Passant alles mit Videokamera filmte, sprach die Jury, in der sich ebenfalls kein Schwarzer befand, die Polizisten frei. Es kam daraufhin zu schweren Straßenkämpfen in Los Angeles, bei denen 53 Menschen starben.
Nun wohnen wir ja in San Francisco und nicht im eine halbe Autostunde entfernten Oakland, doch ich halte mich viel in Oakland auf, da mein Arbeitgeber dort Büro- und Therapieräume hat, in denen ich zweimal die Woche eine Gruppentherapie für autistische Kinder leite. Unsere Leitung wollte auf keinen Fall, dass wir uns in Oakland aufhalten, wenn die Geschworenen ihr "schuldig" oder "nicht schuldig" verkündeten. Das Problem ist nur, dass niemand genau weiß, wann die Jury ihre Beratungen beendet. Und so kam es auch: Die Gruppe bastelte gerade ein Aquarium, als unsere Leitung mich zur Seite zog, und mitteilte, dass das die Geschworenen in 45 Minuten ihr Urteil verkünden würden und wir sofort zusammen packen müssten. Die Kinder fanden es zwar gar nicht lustig, aber wir räumtem dennoch in einem Affentempo auf und flüchteten aus Oakland. Da sich mehrere Arbeitgeber dazu entschlossen hatten, ihre Leute frühzeitig nach Hause zu schicken, entstand ein entsprechendes Chaos auf den Straßen und den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Das Jury befand Mehserle am 8. Juli der fahrlässigen Tötung ("involuntary manslaughter") schuldig. Die Geschworenen fügten hinzu, dass die Gewalttat mit einer Waffe verübt wurde, was 10 zusätzliche Jahre Gefängnis bedeuten kann. Zugegenermaßen erscheint das etwas unlogisch, denn Polizisten laufen gemeinhin mit Waffen herum.
Nachdem die Jury gesprochen hatte, kam es übrigens tatsächlich zu Protesten, die zunächst äußerst friedlich verliefen, aber nach Einbruch der Dunkelheit beschlossen ein paar Vollidioten, dass der Urteilsspruch ja ein willkommener Anlass wäre, Fensterscheiben in Oakland einzuwerfen und Geschäfte auszurauben. Es kam zu 78 Festnahmen. Die meisten der Verhafteten wohnten gar nicht in Oakland, sondern waren extra angereist. Die Verhandlung wird im November fortgesetzt. Wenn dann der Richter das Strafmaß für Mehserle festsetzt, werden die nächsten Ausschreitungen erwartet.
Sogar Arnie, unser Gouverneur, mahnte zu Ruhe und Besonnenheit. Am Rande sei hier noch bemerkt, dass die Stadt Oakland am 13. Juli kurzerhand 80 Polizisten entließ, um das Haushaltsloch zu stopfen. Dies führt dazu, dass die Polizei in Oakland nur noch ausrückt, wenn es sich um Gewaltverbrechen wie Schießereien, Vergewaltigungen und Raubüberfälle handelt. Bei anderen Delikten, wie zum Beispiel Diebstahl, Vandalismus, Autodiebstahl kommt die Polizei nicht mehr, sondern der Geschädigte muss Online einen Bericht einreichen oder selbst zur nächsten Polizeistation fahren.
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