Angelika Wer mich etwas besser kennt, weiß, dass ich immer schon mit autistischen Kindern gearbeitet habe, sowohl in Deutschland als auch in den USA. Gleich nach dem Abitur machte ich ein Jahrespraktikum in der Heilpädagogischen Bildungsstätte Altenoythe und begegnete das erste Mal in meinem Leben Kindern mit einer Autismus-Diagnose. Auch mein späteres Praktikum in der Ambulanz für autistische Kinder in Bremen (heute Autismus-Therapiezentrum genannt) hat mich sehr geprägt. Die Bremer waren damals führend in der Diagnose und Frühförderung, und ich bin dort nicht nur einer großen Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit Autismus begegnet, sondern habe unendlich viel fürs Leben gelernt. Ich denke heute noch an einige der Kinder von damals.
Obwohl Autismus schon lange bekannt ist und bereits 1943 von Leo Kanner (frühkindlicher Autismus) in den USA und Hans Asperger (Asperger Syndrom) 1944 in Österreich beschrieben wurde, hat sich doch über die Jahrzehnte viel verändert. Die Anzahl der Menschen, die mit Autismus diagnostiziert werden, ist stark angestiegen. Mittlerweile spricht man auch von einer Autismus-Spektrum-Störung, das heißt Autismus bewegt sich auf einem Kontinuum und kommt in den unterschiedlichsten Ausprägungen vor.
Alle streiten sich darüber, wie der Anstieg der Zahlen zustande kommt. Ich stimme der Gruppe von Experten, auch basierend auf meinen eigenen beruflichen Erfahrungen, zu, die meinen, dass es hauptsächlich an der zeitigeren, breiteren und verbesserten Diagnostik liegt und daran, dass Autismus mittlerweile in aller Munde ist, das heißt, Eltern, Ärzte und auch Pädagogen können es besser erkennen. Bei Mädchen wurde die Autismus-Diagnose zum Beispiel oft nicht in Erwägung gezogen, weil bei Mädchen Autismussymptome häufig ein wenig anders aussehen als bei Jungs. Autismus tritt heute also nicht unbedingt häufiger auf, sondern wird nur häufiger erkannt. Falls unter unseren Rundbrieflesern jemand ist, der sich für Geschichte interessiert, dem kann ich das folgende Buch wärmstens ans Herz legen: "In a Different Key: The Story of Autism" von John Donvan und Caren Zucker. Das Buch ist sehr lebendig und spannend geschrieben. Es erstaunt mich sehr, dass es noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde.
Die genaue Ursache, wie es zu Autismus kommt, ist trotz intensivster Forschung, noch ein gewisses Mysterium, obwohl man sich mittlerweile einig ist, dass es sich um eine komplexe Entwicklungstörung mit stark genetischer Komponente handelt. Etwas vereinfacht gesagt, erbt man die Veranlagung und dann müssen aber weitere Faktoren hinzukommen, um Autismus auszulösen. Es gibt also nicht ein Gen oder eine Genmutation, die Autismus auslösen, sondern wahrscheinlich eine Vielzahl von Genen, die dann durch ein komplexes Zusammenspiel mit diversen anderen Umweltfaktoren (z.B., Infektionen während der Schwangerschaft, Komplikationen bei der Geburt, ältere Eltern) zum Autismus führen.
Leider gab und gibt es immer wieder Erklärungsversuche für Autismus, die nicht auf Fakten beruhen. Noch in den 70er Jahren machte man die Mütter für Autismus verantwortlich, weil sie angeblich kalt zu ihren Kindern waren und diese deshalb keine Bindung zu ihren Kindern aufbauten. Bruno Bettelheim, ein bekannter amerikanischer Psychologe, setzte diesen Humbug in die Welt und richtete damit viel Schaden an. Und dann hielt sich hartnäckig, dass die Komboimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln Autismus auslöst. Andrew Wakefield, ein britischer Arzt, veröffentlichte dazu 1998 eine Studie und riet Eltern von der Impfung ab. Die Studie stellte sich später aber als betrügerisch heraus, und wurde mittlerweile mit zig Studien widerlegt.
Leider hat sich das noch nicht bis zu unserem derzeitigen Gesundheitsminister Robert Kennedy herumgesprochen. Zunächst hatte dieser verkündet, dem Autismus in neun Monaten auf die Spur zu kommen, was natürlich nicht gelang. Aber der bekannte Impfskeptiker und -gegner Kennedy konnte es nicht lassen und hat doch tatsächlich angeordnet, den Wortlaut bezüglich Impfungen und Autismus auf der offiziellen CDC-Webseite ("Center for Disease Control") subtil zu verändern. Statt weiterhin explizit zu versichern, dass Impfungen keinen Autismus verursachen, heißt es nun, dass Studien dies nicht hätten ausschließen können. Dazu fällt mir echt nichts mehr ein. Nicht nur, dass dies Eltern total verunsichert, sondern es besteht auch die Gefahr, dass die Autismusforschung wieder in die falsche Richtung gelenkt wird. Ganz zu schweigen davon, dass wir jetzt schon verstärkt Masernausbrüche in den USA haben, weil Eltern ihre Kindern nicht mehr impfen lassen. Ich hatte als Kind Masern, weil es bei uns die Impfung noch nicht gab, und ich kann nur sagen, dass Masern kein Zuckerschlecken sind und ich gern darauf verzichtet hätte.