12.12.1997   Deutsch English

  Rundbrief Nummer 6  
San Francisco, den 12.12.1997


Zwischenbilanz nach einem Jahr

(Angelika) Nachdem das Jahr 1997 seinem Ende entgegen geht und Weihnachten kurz vor der Tür steht, will ich euch einmal wieder mit einem Rundbrief beglücken. Letztes Jahr um diese Zeit habe ich, auf Umzugskisten sitzend, mit meinem ersten Rundbrief begonnen und seitdem fleißig über unsere Erlebnisse hier berichtet. Ja, es ist kaum zu glauben, aber wahr, Michael ist jetzt schon seit über einem Jahr hier und ich habe Jahrestag am 30. Dezember. Wir haben in dieser Zeit ziemlich viel erlebt, neue Erfahrungen gemacht, viel dazu gelernt und kennen uns doch insgesamt schon ziemlich gut aus, was Land und Leute betrifft. Hoffentlich denkt ihr jetzt nicht mit Schrecken, dass wir mittlerweile zu echten Amerikanern, was immer das ist, mutiert sind. Nein, keine Angst, ich laufe nicht mit rotlackierten Fingernägeln herum und Michael besitzt keinen Cowboyhut, nur sündhaftteure Turnschuhe, die er am liebsten Tag und Nacht trägt (also doch echt amerikanisch). Überhaupt ist man, wenn man in Kalifornien lebt, nicht Amerikaner, sondern Kalifornier. Apropos Kalifornien, Thomas Gottschalk (ja, ihr habt richtig gelesen), der ja bekanntlich in Malibu lebt, hat zu diesem Thema einen ziemlich witzigen Artikel im Spiegel Spezial "Kalifornien" geschrieben, aus dem ich schnell ein paar Zeilen zitiere:

"Du mit Deinem Kalifiornien", nörgelt meine Mutter bisweilen und fügt vorwurfsvoll hinzu, dass jemand wie ich, der weder Rügen noch die masurischen Alleen durchwandert hat, ohnehin nicht weiß, was landschaftliche Schönheit ist. Auch meinen wiederholten Hinweis, dass man in Malibu rund um die Uhr Lebensmittel kaufen kann, lässt sie nicht gelten: Wer tagsüber seine Gedanken beisammen hat, muss nachts um zwei Uhr keinen Senf kaufen ... Warum also? Wo liegt der Sinn kalifornischen Daseins? Wahrscheinlich im Unsinn! Wenn die Römer spinnen, ist das hier eine geschlossene Anstalt. Fast nichts ist vernünftig, nicht das Wetter, nicht die Menschen, nicht die Autos ...

Übrigens ist das Spiegel-Heft sehr lesenswert. Es beinhaltet sehr gute Reportagen über das Leben in Kalifornien, eine gute Mischung aus Lustigem, Sozialkritischem, Ungewöhnlichem. Also, wer eine Reise zu uns plant, sollte sich das Heft zulegen.

Um noch einmal auf das Thema Amerika versus Kalifornien versus San Francisco zurückzukommen: Wenn man seine Zelte in San Francisco aufgeschlagen hat, ist man wiederum eine ganz besondere Art von Spezie. Egal mit wem wir auch sprechen, ob es der Frisör, die Kassiererin an der Supermarktkasse, der Zeitschriftenhändler oder einer unserer Nachbarn ist, jeder liebt sein San Francisco und besteht darauf, dass es die schönste Stadt der Welt ist und dass jeder, der woanders lebt, verrückt sein muss. Trotz dieses vielleicht doch etwas überzogenen Lokalpatriotismus bleiben die Leute doch sehr kritisch und das gefällt Michael und mir so gut. San Francisco ist unserer Meinung nach eines der liberalsten Orte in den USA. Hier kann man wirklich mit fast jedem offen über die sozialen Probleme der USA diskutieren. Neben dieser Liberalität hat die Stadt natürlich auch noch einige andere Vorzüge, z.B. fantastische Ausblicke, an erster Stelle der Top 10 Liste der Ausblick von unserer Wohnung (wer uns dieses Jahr besucht hat, weiß, was ich meine), super Restaurants, gutes Wetter, Menschen aller Hautfarben und Kulturen, die Golden Gate Bridge, den Ozean, lustige bunte Häuser, verrückte Geschäfte ... ihr seht, hier kann man es schon ganz gut aushalten.

Viele fragen uns in letzter Zeit immer wieder, wann wir denn zurück nach Deutschland kommen werden. Zunächst einmal haben wir das immer noch fest vor. Unser neues AOL- Visum geht offiziell bis zum Jahr 2000, aber solange im voraus planen wir momentan gar nicht, weil man nie so genau weiß was passiert. Wenn alles gut weiterläuft bei AOL, werden wir auf jeden Fall noch 1998 San Francisco unsicher machen und dann "schaun wir mal", wie Michael zu sagen pflegt. Vieles hängt auch von meiner Situation ab. Zur Zeit bin ich sehr zufrieden damit, wie ich meine Tage verbringe (Kurse, Arbeiten im Tenderloin), aber irgendwann möchte ich doch auch wieder ganz gerne richtig arbeiten, das heißt eben auch für Geld.

Viele von euch haben auch angefragt, wann wir denn einmal wieder auf Besuch nach Deutschland kommen werden. Auch das ist noch nicht sicher. Es hängt hauptsächlich davon ab, ob Michael mitkommt, was zur Zeit eher unwahrscheinlich ist, da 10 Tage Urlaub im Jahr eben keine großen Deutschlandtrips erlauben. Weihnachten und auch Silvester werden wir auf jeden Fall dieses Jahr in San Francisco verbringen. Dann werden wir auch unseren ersten gemeinsamen Weihnachtsbaum haben. Michael hat zwar etwas die Augen gerollt, als ich ihm diesen Vorschlag unterbreitete und noch mehr Grimassen geschnitten, als ich ihm offenbarte, dass ich vorhabe, den Weihnachtsbaum in rot, blau und weiß (Farben der amerikanischen Flagge) zu schmücken, aber es ist beschlossene Sache, nächstes Wochenende wird unser Weihnachtsbaum gekauft. Es sei hier nur nebenbei bemerkt, dass ich natürlich jeden, der seinen Weihnachtsbaum in den bayerischen Farben dekoriert, für verückt halten würde. Unser Baum wird natürlich auch echte Kerzen haben und keine elektrische Lichterkette wie hier Sitte. Dafür musste ich extra deutsche Kerzenhalter einführen, da dem Amerikaner Kerzen am Weihnachtsbaum so suspekt sind, dass er sich weigert, diese Kerzenhalter zu verkaufen. Ich erwähnte übrigens meine Pläne mit den echten Kerzen auf einer Feier, als mich die Amerikaner fragten, wie wir in Deutschland Weihnachten feiern, was mir bemitleidenswerte Blicke einbrachte. Ich glaube, dass jeder fest damit rechnet, dass unser Appartement abbrennen wird. Dass man uns nicht gleich wegen groben Unfugs verklagt, ist wirklich verwunderlich.

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