Angelika/Mike Schilli |
Liebe Freunde,
(Michael) die meisten von euch wissen's ja eh schon - aber jetzt ist's offiziell: Seit 15. September arbeite ich für America Online. Nachdem's im Juni in der alten Firma dermaßen schwarz aussah, dass gleich alles zu spät war und Angelika und ich schon gedanklich mit einer Arschbacke im Deportations-Flugzeug saßen, habe ich Anzug und Krawatte aus dem Schrank geholt, ob des Staubs ein wenig gehustet, ein Auto gemietet, und bin auf Stellensuche gegangen.
(Michael) Die Amis suchen zum Glück Softwareentwickler wie die Wilden. Das Problem war halt nur, dass bei einem Ausländer wie mir zwischen dem Zeitpunkt, an dem die Firma sich entscheidet und dem Arbeitsbeginn das INS (Einwanderungsbehörde) monatelang herumtrödelt und irre Papierberge produziert. In amerikanischen Firmen gehen Bewerbungen eher so: "Wann fangen Sie an?" "Morgen!" "Gut!". Aber AOL hatte starkes Interesse wg. Perlguru usw., hat den Anwalt gestellt, der die Behörden in Schach gehalten hat - und jetzt bin ich hier!
AOL Productions, die Truppe, bei der ich bin, macht Neuentwicklungen für www.aol.com und sonst noch einige Projekte für AOL (nicht alles, in Virginia, im Osten Amerikas, gibt's noch 'ne Abteilung, die entwickelt) besteht aus ca. 70 Leuten, die alle in San Mateo, 30km südlich von San Francisco, sitzen. Ich sitze - wie alle anderen - in einem Cubicle (Stellwand-Quadrat im Großraumbüro) mit einem PC und einem X-Terminal. Alles sehr nette Typen, der Typ im Cubicle nebenan saß heute den ganzen Tag mit Sonnenbrille vor dem Bildschirm - Freaks allesamt. Außer einem Schotten, der seit 20 Jahren in Amiland lebt, einer Engländerin und einem sehr asiatisch aussehenden Franzosen bin ich der einzige 'Alien' wie das hier so schön im Behörden-Englisch heißt. Am schwersten fällt mir momentan, dass ich den ganzen Tag Englisch plappern muss. "How are you?" "Good! How about yourself?" "Good!" "That's great!" so geht das die ganze Zeit und die Amis lieben es zu plappern.
Am Mittwoch war Betriebsausflug nach Alkatraz (für Nicht-Amerika-Kundige: das Gefängnis auf der Insel vor San Francisco). Das ist zwar eine Touristenattraktion, aber die meisten der Ansässigen waren noch nie dort, genauso wie kaum ein Münchner ins Hofbräuhaus geht. Als der Touri-Animateur dort fragte, woher wir kämen und die Jungs in bestem Lokal-Dialekt sagten: "San Mateo!" war der ganz verduzt und meinte "Man, what a drive! Are you tired???"
Heute war New-Employee-Welcome-Essen im TGIF. Das heißt "Thank God it's Friday" und ist so eine Kette, die so richtig fettes amerikanisches Essen bereitet, echt gut.
Und Java muss ich machen. In meiner Job-Beschreibung steht: "Very strong understanding of OO-development in Java". Na, das passt doch 100%ig. Demnächst erwartet euch also ein Java-Buch ...
Es ist eine sehr lockere Atmosphäre: Niemand (auch nicht der Chef) trägt einen Anzug oder Krawatte oder auch nur ein Hemd. Als ich am ersten Tag mein Fahrrad unten abgestellt habe, hat man mich gefragt, ob ich es nicht wie die anderen mit hoch ins Büro nehmen wolle - seit dem steht es tagsüber bei mir - cool. Ich schiebe es am Morgen über den Teppich in der Eingangshalle, sage "Hallo" zur Rezeptionsdame (das erste Mal sagte sie: "Hey, you got a bike - cool!") und weiter geht's durch die Cubicle-Reihen ...
(Michael) Ja, Fahrrad: ich fahre täglich zur Bahnstation (20 min), mit dem Zug nach San Mateo (25 min) und dann den steilen Berg zum AOL-Gebäude hinauf (15 min, runterwärts die Hälfte). Da die CAL-Train-Züge maximal 24 Fahrräder mitnehmen und morgens und abends nur etwa halbstündlich verkehren und weiterhin das Wetter absolute Weltklasse ist (seit Februar vielleicht 2 Regentage) entdecken leider immer mehr Amis diese Fahrweise und es kommt häufig vor, dass man 'kicked off the train' wird. Aber die Amis stellen sich brav an und wer zuerst kommt mahlt zuerst. Da es ziemlich wurscht ist, wann ich zur Arbeit komme oder gehe, nehme ich's gelassen, kauf' mir 'nen Kaffee oder ess' 'nen Muffin bis der nächste Zug kommt.
Die Fahrradfahrer in SF proben zur Zeit eh den Aufstand, jeden Freitag sind Fahrrad-Demos in der Innenstadt angesagt mit leichten Ausschreitungen, weil diskutiert wird, ob die neue Bay-Bridge einen Radweg erhalten soll oder nicht und yada yada yada. Insgesamt ist Fahrradfahren leicht gefährlicher als in München - es kommt schon mal vor, dass einer in einem parkenden Auto unvermittelt die Tür aufreißt oder ohne zu blinken rechts abbiegt, aber wenn man's gewöhnt ist und gehörig herumschreit "Hey! You got a submarine's driver's license or what?" geht's schon. Den Spruch hab ich jetzt aber erfunden, man muss in Amiland sehr vorsichtig sein, Autofahrer zu provozieren, weil einige eine Knarre mit sich führen und sehr hitzig reagieren.
(Michael) Als AOL-Angestellter kriegt man einen freien Account und einen zusätzlichen, den ich Angelika geben werde. Leider keinen weiteren, Anfragen sind zwecklos! UND ICH BIN AUCH NICHT FÜR IRGENDWELCHE BESETZTEN TELEFONLEITUNGEN ODER SYSTEMABSTÜRZE DER AOL OPERATIONS VERANTWORTLICH, LIEBE AOL-USER! Momentan arbeite ich mich noch in den ganzen Kram ein, da ich bisher einen anderen Internet-Provider hatte, ich Dummi! Ab jetzt muss ich natürlich AOL promoten, also, Leute, das Zeug ist wirklich gut, kauft massenhaft!
Ja, und in der Firma lässt sich's echt aushalten: Es gibt Automaten für Getränke und Speisen, für durchgehackte Nächte und so. Jeden Tag liegt frisches Obst aus, Kaffee gibt's natürlich auch. Eine Massage-Liege, da legt man sich drauf, drückt einen von ca. 30 Knöpfen und dann rumpelt's und werkelt's und der Rücken wird massiert, sehr angenehm. Dann gibt's einen Pool-Billard-Tisch. Ein kleines Fitness-Studio mit Rowing-Machine und so. Und da man als AOL-Angestellter natürlich die AOL-Software nutzen muss, klickert man schon mal in den Nachrichten rum, verfolgt Baseball-Spiele oder holt den aktuellen Kurs der AOL-Aktie, von der man ja auch profitiert. Ihr seht: Da bleibe ich.
So, dieser Brief entstand auf einem Laptop im CAL-Train auf dem Weg von San Francisco nach San Mateo. Gleich muss ich aussteigen. Und da die Angelika sich immer beklagt, dass sie auf ihre Rundbriefe von so wenigen von euch eine Antwort bekommt (wenn ihr nicht zu den stillen Konsumenten gehört, fühlt euch nicht angesprochen, es gibt auch fleißige Schreiber unter euch, aber eben weeeenige), ergeht nun folgendes Urteil: Wer keine Antwort schreibt, kriegt nächstesmal nix mehr! Don't mess with Schilli.
Habe die Ehre!
Euer AOL-Michel.
P.S.: Einen guten amerikanischen Gag habe ich mir gestern erklären lassen: Wenn man sich über einen Namen lustig macht, sagt man ihn zweimal und hängt beim zweitenmal ein 'Schm' davor. "Did you ask Barry?" "Barry, Schmarry!". "How about Daniel?" "Daniel, Schmaniel!". Das ist echt der ENDLOS-Gag, den könnte ich stundenlang aufsagen. Angelika kann's schon nicht mehr hören ...
P.P.S: Eine lobenswerte Einrichtung bei AOL: Am Freitag Abend um 4 wird der abgesperrte Kühlschrank geöffnet, und, siehe da, Wunder oh Wunder, er ist voller Bier! Das wird mit großem Hallo festgestellt und sich sofort an die Vernichtung des Vorrats gemacht. Bei Musik und Pool-Billard, macht Laune!
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