21.11.2001   Deutsch English

  Rundbrief Nummer 34  
San Francisco, den 21.11.2001


Abbildung [1]: Am Eingang von Netscape/AOL

Am Eingang zum Netscape-Campus, auf dem rund 10 Gebäude stehen, steht, seitdem AOL Netscape gekauft hat, nicht nur das Netscape-N, sondern auch das AOL-Logo. Netscape hat die Gebäude übrigens nur gemietet und kürzlich einige davon aufgegeben. Vor etwa einem Jahr, auf dem Höhepunkt der Dot-Com-Seifenblase, erklärte sich die Firma Veritas bereit, sie zum Preis von 600 Millionen Dollar für 10 Jahre zu mieten. Nun ist natürlich der ganze Markt kollabiert und die Verhandlungen mit dem Vermieter wurden wieder aufgerollt. Man einigte sich darauf, dass Veritas die Gebäude nun für 280 Millionen Dollar kaufen darf. Zur Hälfte des ursprünglich verhandelten Mietpreises wechseln die Gebäude nun den Besitzer, das muss man sich mal vorstellen! Auch der Springbrunnen mit dem Netscape-Logo, vor dem Netscape-Gründer Marc Andreessen gerne für Zeitungen posierte, wurde verscherbelt: Ihn ziert nun das Logo der Firma "Verisign".

Abbildung [2]: Der Netscape-Springbrunnen gehört jetzt der Firma Verisign

Aber genug der düsteren Prognosen. Lasst euren Silicon-Valley-Haudegen mal schwadronieren, bevor endgültig alles zusammenkracht:

Zwischen den beigen Gebäuden stehen Parkbänke und Springbrunnen, damit man sich entspannen kann. Die jungen Leute! Der neue Chef von Netscape ist irgendwie 26 Jahre alt. Und ich komme mir immer uralt vor, wenn ich mir meine Kollegen ansehe, die gerade aus der Uni kommen. Ach ja, die Jugend muss noch viel lernen!

Abbildung [3]: Zwei Kollegen grübeln über irgendwas

Die Kleiderordnung ist natürlich kalifornisch-leger, ich glaube ich habe in vier Jahren noch niemanden mit Krawatte gesehen. Im Sommer sind kurze Hosen und T-Shirts angesagt, Baseball-Kappen sind auch beliebt. In Lederschuhen laufe ich mir neuerdings wüste Blasen, da ich seit fünf Jahren nur Turnschuhe oder Birkenstöcker trage. Zuhause im Schrank hängt in einer Plastikhülle verschweißt ein Jackett, ein Hemd, eine Krawatte und eine "schöne" Hose -- falls mal der Supergau eintritt und ich mich irgendwo vorstellen muss. Bis dahin bleibt das Plastik dran.

Abbildung [4]: Der Eingang zu meinem Cubicle. Ich bin der König von Bayern.

Abbildung [5]: Ein entspannendes Kicker-Spiel

Auch gibt es Pool-Billard, Kicker-Automaten, eine Minigolf-Anlage, draußen ein Beach-Volleyball-Feld, Basketball-Courts, eine Rollerhockeyanlage, und ein Putting-Green für Golfspieler. Auch ein eigenes Fitnesscenter mit Tretmühlen, Muskelmaschinen, allerlei modernem Gerät und Duschen wurde gebaut. Der zugrundeliegende Gedankengang ist freilich der, dass fast jeder Preis gerechtfertigt ist, die Leute so lange wie möglich in der Firma zu halten. Neulich las ich einen Artikel, in dem stand, dass jeder Manager von Softwareentwicklern sich fragen muss, was er falsch macht, wenn die Leute schon um 6 Uhr abends heimgehen (Managing Software Engineers)

Abbildung [6]: Beachvolleyball freitags um fünf bei Netscape

Ich habe übrigens ein kleines Programm eingerichtet, das eine Tischtennis-Rangtabelle implementiert und sich steigender Beliebtheit erfreut. Die Leute in der Abteilung können sich gegenseitig herausfordern und ihren Rang verbessern, indem sie nach minutiös von mir festgelegten Regeln gegeneinander antreten.

Abbildung [7]: Ein Kollege im Tischtennis-Raum

Außerdem steht im Tischtennisraum eine kleine Web-Cam (Computer-Kamera), die jede Minute ein Bild vom Tischtennisraum aufnimmt, so dass man ihn vom Arbeitsplatz aus über einen normalen Webbrowser beobachten und damit sehen kann, ob die Tischtennisplatte gerade frei für ein Match ist.

Aber wie gesagt, die Zeiten sind vorbei: Derlei Gerät kann man derzeit günstig auf Zwangsversteigerungen von pleite gegangenen sogenannten "DotCom"-Firmen erwerben. Das reißt natürlich auch die übrige Wirtschaft rein, denn wenn die Silicon-Jockeys keine Millionen mehr verdienen, schmeißen sie das Geld auch nicht mehr mit vollen Händen raus. So ging zum Beispiel die Firma, die einmal die Woche auf dem Netscape-Parkplatz die Autos von Hand wusch und wachste, kürzlich pleite. Auch für Partyveranstalter, T-Shirt-Bedrucker und Spielgerätehersteller brechen harte Zeiten heran.

Abbildung [8]: Das Gladiators-Spiel während des Sommerfests 2001

In San Francisco machen die Luxusrestaurants, in denen die Angestellten der Internetfirmen vornehm ihr Mittagessen einnahmen, reihenweise die Schotten dicht. Die "$1000-Kommode-aber-die-Schubladen-gehen-nicht-richtig-zu"-Möbelläden ächzen unter der Wirtschaftskrise. Vermieter müssen "$2000-für-zwei-kleine-Zimmer-aber-der-Putz-fällt-von-den-Wänden" Wohnungen leerstehen lassen. Wir sind bestürzt!

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