Ich hoffe, dass meine Schilderung euch jetzt nicht davon abhält, uns zu besuchen. Keine Angst, Michael zeichnet die wüsten Viertel immer gleich in unseren Stadtplan ein und ich schwöre, dass noch genug Viertel übrig bleiben, die nicht markiert werden müssen, also sicher sind.
Was uns beide schon sehr erschüttert, ist das soziale Elend, was einem auf Schritt und Tritt begegnet, wenn man in San Francisco unterwegs ist. So gibt es sehr, sehr viele bettelnde Obdachlose. Geht man unter einer Brücke durch, findet man immer zwei bis drei Obdachlose, die dort schlafen oder Schutz vor dem Wetter suchen. Besonders problematisch ist, dass zur Zeit die Bedingungen für die Sozialhilfe verschlechtert werden. Geplant ist, dass man nur noch zwei Jahre Sozialhilfe bekommen soll. Hat man in oder nach diesen zwei Jahren keine Arbeit gefunden, bekommt man auch die Sozialhilfe gestrichen. Es sollen zwar Hilfsprogramme eingeführt werden, damit der Sozialhilfeempfänger leichter Arbeit findet, die liberaleren Zeitungen diskutieren dies aber sehr kritisch, weil sie meinen, dass diese Hilfsprogramme nicht ausreichen. Liest man die einschlägigen Zeitungen aufmerksam, wird dort immer wieder diskutiert, dass die schlechte soziale Absicherung verantwortlich ist für das Steigen der Gewalt, der Kriminalität, die teilweise schlechte Schulbildung, vor allen Dingen an den öffentlichen Schulen usw.; richtige Proteste in der Bevölkerung gibt es aber nicht. Das alte Vorurteil über Amerika hat also tatsächlich auch weiterhin Gültigkeit: "Bist du gesund, jung, weiß und risikofreudig, kannst du in Amerika alles erreichen. Bist du arm, krank, schwarz oder alt, solltest du lieber nicht in Amerika leben."
Ich hoffe, dass ich jetzt nicht zu sehr Horrorszenarien aufgezeigt habe, aber ich denke, dass euch ein realistisches Amerikabild interessiert. Überhaupt ist es ganz anders, wenn man in dem Land lebt oder es als Tourist bereist. Auch als Tourist sieht man das soziale Elend und die soziale Ungerechtigkeit, man ist aber doch ganz anders betroffen und involviert, wenn man in dem Land lebt.